Bürokratisch, unsozial und scheinheilig - Die Koalition hinterlässt eine pflegepolitische Baustelle

Am Mittwoch will sich das Bundeskabinett auf eine Reform der Pflegeversicherung einigen, die diesen Namen nicht verdient. Im Mittelpunkt steht der Tariftreuegrundsatz von SPD-Arbeitsminister Heil und ein mickriger Steuer-zuschuss des SPD-Finanzministers Scholz. Eine unheilvolle Allianz, die zu einem scheinheiligen Pflegekompromiss geführt hat und der in jeder Hinsicht bürokratisch und im besten Fall wirkungslos ist. Besonders bitter: Er ist auch unsozial, weil die Zeche die alten, pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen zahlen müssen.

Von Bernhard Schneider

Eine echte Reform der Pflegeversicherung ist erst einmal vom Tisch. Denn das, was diese Woche im Eilverfahren politisch durchgesetzt werden soll, ist eine weitere Pflegebaustelle, die sich nahtlos in die Reihe halbherziger Pflegestärkungs- und -verbesserungsgesetze einreiht. Von einer echten Pflegereform, die sowohl strukturell als auch finanziell die Pflege zukunftsfähig macht, ist nicht viel übriggeblieben. Die Koalition und vor allem der CDU-Gesundheitsminister haben viel versprochen und wenig geliefert.

Und die SPD? Die spielt eine ziemlich unheilvolle Rolle. Denn wenn ein SPD-Finanzminister gemeinsame Sache mit einem SPD-Arbeitsminister macht, dem seine gewerkschaftsnahen Mitglieder wichtiger sind als Heimbewohner, die ihre Pflegekosten nicht mehr zahlen können, wird’s scheinheilig. Der nun vereinbarte Steuerzuschuss und die „relative Deckelung der Eigenanteile“ sind ein Armutszeugnis.

Pflegebedürftige werden relativ wenig entlastet. Denn leider sollen Heimbewohner erst nach zwölf Monaten mit einem 25-prozentigen Leistungszuschlag entlastet werden; im dritten Jahr werden es 50 Prozent und im vierten Jahr 75 Prozent sein. Dieser Vorschlag ist nicht nur hochbürokratisch und unsinnig, sondern auch ungerecht und weitgehend wirkungslos. In Einrichtungen der EHS sind durchschnittlich etwa 40 Prozent aller Bewohnerinnen und Bewohner nicht länger als zwölf Monate im Pflegeheim. Sie haben von der Reform gar nichts. Sie bezahlen weiterhin Eigenanteile von teilweise über 1.500 Euro monatlich, allein für die Pflege, mit stark steigender Tendenz.

Die Eigenanteile galoppieren relativ schnell wieder davon. Denn der „relative Deckel“ ist kurzsichtig: Mit den geplanten besseren Personalschlüsseln und der besseren Bezahlung der Pflegekräfte werden die Eigenanteile in absehbarer Zeit soweit ansteigen, dass sie trotz der relativen Leistungszuschläge bald wieder so hoch sind wie jetzt. Das Problem wird also nicht gelöst, sondern nur verschoben – ein fataler, strategischer Fehler.

Der fixe Eigenanteil ist in den koalitionären Schubladen verschwunden. Denn die eindeutig bessere Variante ist der von der Initiative Pro-Pflegereform und Professor Heinz Rothgang ausgearbeitete Sockel-Spitze-Tausch, den Jens Spahn als „gedeckelten Eigenanteil“ in seine Novembereckpunkte aufgenommen hatte: 700 Euro Eigenanteil an den Pflegekosten für längstens 36 Monate. Dieser sog. „absolute Deckel“ wirkt sofort und hilft allen Pflegebedürftigen.

Dass der Tariftreuegrundsatz aufgenommen wurde, ist eine gute Sache. Denn noch immer wird jede zweite Pflegekraft in Deutschland nicht nach Tarif bezahlt. Deshalb macht es Sinn, dass nur solche Pflegeanbieter mit der Pflegekasse abrechnen dürfen, die ihre Mitarbeitenden anständig nach Tarif bezahlen. Man kann das aber nur machen, wenn sichergestellt ist, dass die tarifpolitische Wohltat für die Pflegenden nicht zur finanziellen Katastrophe für die Pflegebedürftigen wird. Genauso wird es mit dem relativen Deckel aber kommen; das ist ungerecht und unsozial.

Unterm Strich: Die Pflegereform der großen Koalition ist keine mehr. Denn der aktuelle Entwurf im GWVG bleibt hinter den Erwartungen der Branche und, noch schlimmer, hinter seinen eigenen Möglichkeiten zurück. Und die SPD hinkt weiter ihren eigenen Ansprüchen hinterher. Ob das die Wähler im September überzeugt, ist unwahrscheinlich.