Offener Brief: Nachhaltige Finanzierung der Pflege

Sehr geehrter Herr Minister, lieber Herr Dr. Habeck,

mit großem Interesse haben wir das Gutachten ihres wissenschaftlichen Beirats zur „Nachhaltigen Finanzierung von Pflegeleistungen“ gelesen. Bei allem Respekt für die Expertise der Mitglieder des Beirats kommt nach unserer Auffassung die Perspektive der Pflege dabei viel zu kurz. Außerdem werden fundierte Reformvorschläge aus der Branche, wie zum Beispiel das Gutachten von Prof. Dr. Heiz Rothgang zur „Alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung“ der Initiative Pro Pflegereform (Anlage) ausgeblendet. Das ist insofern fahrlässig, weil damit die Chance verpasst wird, eine nachhaltige Finanzreform gemeinsam mit einer längst überfälligen Strukturreform auf den Weg zu bringen.

Wer die Pflegeversicherung retten will, muss beide Reformperspektiven angehen und aufeinander abstimmen. Dazu möchten wir Ihrem Hause gerne unsere Expertise anbieten und Sie zeitnah um ein Fachgespräch bitten, gerne hier in Stuttgart bei der Evangelischen Heimstiftung oder auch in Berlin in Ihrem Hause.

Gerne nehme ich vorab zu den vier Aspekten Ihres wissenschaftlichen Beirats Stellung:

1. Leistungskatalog des SGB XI nicht weiter ausdehnen: Das ist der falsche Weg, denn bereits heute bezahlen Pflegebedürftige für pflegebedingten Aufwendungen Eigenanteile von 1.000 EUR und mehr. Und das widerspricht dem Grundgedanken der Pflegeversicherung: Sie sollte von Anfang an die Pflegeversicherungsleistungen im Durchschnitt so ausgestalten, dass die Pflegekosten finanziert sind. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Leistungen der Pflegeversicherung also ausgeweitet werden.

2. Der Beitragssatz soll maßvoll angehoben werden, um den Pflegevorsorgefond aufzustocken: Das Instrument der Beitragssatzerhöhung muss für eine insgesamt nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung und Entlastung der Pflegebedürftigen und nicht für einen Vorsorgefonds eingesetzt werden.

3. Zur Vermeidung von Sozialhilfebedürftigkeit soll als zusätzliche Vorsorge eine private Pflichtversicherung erwogen werden: Die „Pflegezusatzpflichtversicherung“ kann ein wichtiger Baustein zur nachhaltigen Finanzierung sein. Sie wird allerdings nur funktionieren, wenn der zusätzlich zu versichernde Eigenanteil für pflegebedingte Aufwendungen kalkulierbar und damit versicherbar ist. Dazu hat die Initiative Pro Pflegereform mit dem sogenannten Sockel-Spitze-Tausch einen konkreten Vorschlag ausgearbeitet. Dieser sieht vor, dass der von den Pflegebedürftigen zu tragende, pflegebedingte Eigenanteil gedeckelt wird – und zwar der Höhe nach und für eine bestimmte Dauer. Erst ein solcher, fix berechenbarer Anteil könnte, wenn dies politisch gewollt ist, auch als Pflichtversicherung zusätzlich abgesichert werden.

4. Der Beirat hält eine Ausweitung der Versicherungspflicht nicht für empfehlenswert: Die Initiative Pro Pflegereform ist überzeugt, dass eine nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung nur in einer Kombination verschiedener Finanzierungsbausteine möglich ist, die je nach politischer Präferenz gewichtet werden könnten. Die Ausweitung der Versicherungspflicht im Sinne einer „Pflegebürgerversicherung“ sollte deshalb nicht vorschnell verworfen werden. Im Gegenteil: Sie kann einen wesentlichen und auch von breiten Bevölkerungsschichten mitgetragenen Beitrag leisten, um die Beitragsspirale in der Sozialversicherung zu dämpfen.

Sehr geehrter Herr Minister Habeck, wir haben uns sehr gefreut, dass im Koalitionsvertrag eine Expertenkommission berufen werden soll, die sich um die nachhaltige Reform der Pflegeversicherung kümmert. Wir sind sehr enttäuscht, dass dazu bislang noch kein ernstzunehmender Vor-schlag aus dem BMG vorgelegt werden konnte.

Wir würden es deshalb sehr begrüßen, wenn es aus Ihrem Hause für die Pflegebranche einen Impuls gäbe, mit dem ein Reformprozess für die Pflegeversicherung endlich eingeleitet werden könnte. Wir brauchen in Deutschland eine grundlegende Finanz- und Strukturreform der Pflegeversicherung. Vorschläge dazu liegen mit dem Rothgang-Gutachten auf dem Tisch. Es zeigt, dass die Reform machbar und auch finanzierbar ist.

 

Mit freundlichen Grüßen

Bernhard Schneider