Pflege- und Betroffenenverbände, Mitarbeitervertretungen, Pflegeunternehmen und nun viele Sozialpolitiker auf Bundes- und Landesebene: Bundesweit wird die Forderung nach dem Sockel-Spitze-Tausch immer lauter. Diese grundlegende Reform würde die steigenden Eigenanteile begrenzen und die starren Sektorengrenzen auflösen. Dass der Sockel-Spitze-Tausch möglich und finanzierbar ist, hat Prof. Rothgang bereits 2017 im Auftrag der Initiative Pro-Pflegereform gezeigt. Ein zweites Gutachten wird nun die Umsetzung beschreiben. Im Mai nehmen zwei Expertengruppen ihre Arbeit auf.
Es war keine schlechte Idee von Norbert Blüm, als er 1995 die Pflegeversicherung als „Teilkaskoversicherung“ einführte. Inzwischen dürfte aber allen klar sein, dass das Prinzip nicht mehr funktioniert, weil die Pflegekasse nur einen fixen Anteil an den Pflegekosten übernimmt. Die Versicherten müssen den darüberhinausgehenden Eigenanteil aus der eigenen Tasche bezahlen – in vielen Fällen führt das in die Sozialhilfe. Dass sich immer mehr Menschen gute Pflege nicht mehr leisten können liegt daran, dass die Eigenanteile unaufhaltsam auf teilweise über 3.000 Euro im Monat steigen. Das tun sie zum einen aufgrund höherer Personalschlüssel und besserer Gehälter in der Pflege – und zum anderen, weil all diese Verbesserungen nur den Versicherten in Rechnung gestellt werden. Denn die Leistungen der Pflegeversicherung sind auf einen Sockelbetrag begrenzt. Die nach oben offene Spitze zahlen die Pflegebedürftigen selbst.
Sockel-Spitze-Tausch würde die Eigenanteile der Versicherten begrenzen
Dieses System muss umgedreht werden: Die Pflegekasse übernimmt alle notwendigen pflegebedingten Kosten und berechnet den Versicherten einen fixen, gesetzlich festzulegenden Sockelbetrag. In der Folge trägt nicht mehr der Einzelne das finanzielle Pflegerisiko, sondern die Solidargemeinschaft. Das ist eine Weterentwicklung der Blümschen Pflegeversicherung zur „echten“ Pflegeteilkaskoversicherung.
Abbau der Sektorengrenzen sorgt für ortsunabhängige Pflegeleistungen
Gleichzeitig müssen die starren Sektorengrenzen zwischen ambulant und stationär vollständig überwunden und stattdessen das System nach den zwei Prinzipien „Wohnen“ und „Pflege“ organisiert werden: Die Pflegeversicherung übernimmt Grundpflege und Betreuung, die Krankenkasse Behandlungspflege und Rehabilitation und der Versicherte zahlt die Hotelkosten. Das ist ein einfaches Prinzip, das wohnortunabhängig funktioniert, also zu Hause ebenso gut wie im Pflegeheim oder im Betreuten Wohnen.
Zweites Gutachten untersucht Module und Finanzierung eines neuen Pflegesystems
Dass diese Reform sinnvoll und umsetzbar ist, hat ein Gutachten des Gesundheitsexperten Prof. Dr. Heiz Rothgang im Mai 2017 gezeigt, das er im Auftrag der Initiative Pro- Pflegereform erstellt hat. Nun wurde ein zweites Gutachten beauftragt, mit dem Schwerpunkt auf die Umsetzung des Sockel-Spitze-Tauschs und den dafür notwendigen, politischen Reformen. “Wir wollen die Flughöhe verringern und die notwendigen Impulse in die fachliche und politische Diskussion einbringen, um die Eigenanteile endlich zu begrenzen. Dazu müssen die Sektorengrenzen abgebaut und der Sockel-Spitze-Tausch umgesetzt werden und das zweite Gutachten wird genau das beschreiben“, erklärt Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung und Sprecher der Initiative.
Am zweiten Gutachten arbeiten ab Mai zwei Resonanzgruppen: Die Resonanzgruppe „Finanzierung“ beschäftigt sich mit der Umfinanzierung der Behandlungspflege, mit den Auswirkungen eines Sockel-Spitze-Tausches in finanzieller Hinsicht und dessen leistungsrechtliche Ausgestaltung. Die Resonanzgruppe „Module“ untersucht die Definition der zwei Module „Wohnen“ und „Pflege“, die Erstellung und Bepreisung eines Modulkataloges in einer Welt ohne Sektoren einschließlich eines möglichen Bezugs zur Personalbemessung. In jeder Gruppe arbeiten, neben Prof. Rothgang und Thomas Kalwitzki als Gutachtenautoren auch jeweils acht Experten aus der Initiative mit. Die EHS ist in beiden resonanzgruppen vertreten und koordiniert den Prozess seitens der Initiative.
Mit dem DEVAP, dem VKAD und dem DVLAB engagieren sich drei wichtige Verbände in den Prozess und zudem sowohl Diakonie- als auch Caritasträger sowohl mit ambulanten als auch mit stationärem Fokus. „Das zeigt den bundesweiten, übergreifenden Konsens über die Notwendigkeit des Sockel-Spitze-Tausches“, sagt Schneider, „und die Notwendigkeit, die Reform zeitnah umzusetzen“. Das Gutachten wird im Herbst 2019 vorliegen.
Zum Hintergrund
Die Initiative Pro-Pflegereform wurde Ende 2016 von mehreren Trägern und Verbänden aus der deutschen Pflegebranche ins Leben gerufen. Mittlerweile unterstützen 118 Pflegeunternehmen mit 959 Pflegeheimen und 263 Pflegediensten sowie 59 Verbände und Organisationen die Initiative, die sich für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Pflegeversicherung einsetzt. In einem ersten Gutachten zeigte Prof. Dr. Heinz Rothgang im Mai 2017 auf, dass der Sockel-Spitze-Tausch machbar und finanzierbar ist. Das zweite Gutachten wird nun die Umsetzung der Versicherungsreform analysieren.