Plädoyer für eine neue Zuversicht in der Pflege
von Bernhard Schneider
Auch wenn das Lamento anhebt und die dürren Zusagen für die Pflege im Koalitionsvertrag allenthalben kritisiert werden, so bleibt mein Fazit in der Tradition diakonischer Zuversicht durchaus positiv. Ein Koalitionsvertrag mit 17 Zeilen zur Pflege, die Luft nach oben lassen, ist mir lieber, als ein Konvolut mit vielen Versprechungen, die, siehe Ampelkoalition, nicht eingehalten werden. Das bedeutet: Die Arbeit an der großen Pflegereform beginnt jetzt und die neue schwarz-rote Koalition scheint dafür offen zu sein.
Denn das immerhin, steht geschrieben: „Die Herausforderungen in der Pflege zu bewältigen ist eine Generationenaufgabe. Dazu braucht es einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Vertrauen und weniger Bürokratie. Wir erarbeiten zügig eine große Pflegereform, die das System einfacher, flexibler und bezahlbarer macht.“
Der Satz könnte von mir gekommen sein. Und es werden noch weitere Aspekte aufgegriffen, die der Initiative Pro-Pflegereform bekannt vorkommen dürften: Die pflegebedingten Eigenanteile sollen begrenzt, pflegende Angehörige gestärkt, bestehende Leistungen gebündelt und die sektorenübergreifende Versorgung gestärkt werden. Das ist doch besser als nichts, vor allem wenn nun endlich versicherungsfremde Leistungen, die Ausbildungskosten und die Coronahilfen aus dem Bundeshaushalt übernommen werden.
Natürlich hätte ich mir vor allem für das Sofortprogramm in der 1. Reformstufe mehr gewünscht als die Ankündigung einer Bund-Länder-AG, die noch 2025 eine Strukturreform vorlegen soll. Aber ich bin sicher, dass dort die Reformvorschläge der Initiative Pro-Pflegereform Beachtung finden. Denn es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass das 3. Gutachten von Heinz Rothgang und seinem Team die Tür für eine Pflegeversicherung der Zukunft aufstößt. Damit kann die Koalition ihrem Anspruch, eine Generationenaufgabe zu bewältigen, gerecht werden.
Auf knapp 100 Seiten wird wissenschaftlich fundiert ein Gesamtkonzept zu einer „Alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung“ vorgestellt: Die Pflegeversicherung wird einer Finanz- und Strukturreform unterzogen und zu einer Vollversicherung mit begrenzten Eigenanteilen weiterentwickelt. Das Gutachten nimmt erstmals alle Versorgungsformen im Pflegeheim und zu Hause in den Blick. Es entwirft ein Gesamtkonzept, das ohne die Aufteilung in ambulant/stationär auskommt. Stattdessen ermöglicht es individuelle Pflegearrangements nach dem Prinzip Wohnen und Pflege (in einer Welt ohne Sektoren) und wirft damit Bürokratielasten über Bord. Und es gibt Antworten, wie eine individuelle, bedarfsorientierte Leistungsbemessung, innovative Versorgungsformen und die stärkere Einbindung der Zivilgesellschaftlich dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken können.
Die Blaupause für eine große Pflegereform liegt auf dem Arbeitstisch einer Koalition, die sich dieser Aufgabe stellen will. Deshalb meine Botschaft an uns alle in der Pflegebranche: Schluss mit dem Lamento, Kopf hoch und gemeinsam, verbändeübergreifend ans Werk.
Zum Autor
Bernhard Schneider ist Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung und Initiator von Pro-Pflegereform.