Die Ausgangsbeschränkungen des Landes kommen nach Ansicht der Evangelische Heimstiftung zwei Wochen zu spät. Das Virus ist bei der vulnerabelsten Risikogruppe bereits angekommen. Es braucht jetzt proaktive Strategien gegen die Coronaepidemie. Die Pflegeheime können eine kompetente Versorgung sicherstellen, wenn Schutzausrüstung da ist, schnell getestet und schnell ärztlich behandelt wird.
Als größtes Pflegeunternehmen in Baden-Württemberg und Träger von 145 Einrichtungen, davon 86 Pflegeheimen und 30 Pflegediensten hat sich die Evangelischen Heimstiftung (EHS) sehr früh und sehr konsequent auf das Coronavirus eingestellt. „Uns war klar, dass wir trotz aller Maßnahmen keine Schutzglocke über die Häuser legen können“, sagt Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider: „Bei uns leben alte, kranke, multimorbide, pflegebedürftige Menschen: die vulnerabelste Risikogruppe in unserer Gesellschaft. Deshalb tun wir alles, um sie vor dem Virus zu schützen, wissen aber, eine 100-prozentige Sicherheit kann es leider nicht geben. Die Ausgangsbeschränkungen, die jetzt vom Land erlassen wurden, hätten die Häuser zur Eindämmung der Krise früher gebraucht. jetzt sind proaktive Maßnahmen gefragt, mit denen wir nicht nur auf die Entwicklungen von gestern reagieren.“
Pflegeheime: Strenge Maßnahmen, um Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren
Bereits seit Anfang März wurden öffentliche Veranstaltungen in der EHS komplett zurückgefahren, die Cafés und Quartiersräume wurden geschlossen. Seit dem 13. März gilt in der EHS, wie in vielen anderen Pflegeheimen auch, ein striktes Besuchsverbot, das teilweise auch mit polizeilicher Unterstützung durchgesetzt wurde. Ärzte, Therapeuten und Seelsorger, die nur im Notfall in die Einrichtungen dürfen, müssen Hygienemaßnahmen einhalten und Mundnasenschutz tragen, ebenso wie alle Mitarbeiter. Die Bewohner wurden schon früh angehalten, das Haus nicht zu verlassen und sich draußen nur noch auf den Balkonen, Terrassen oder in Gartenbereichen der Einrichtungen zu bewegen. Inzwischen wird ein strenges Ausgehverbot umgesetzt um Kontakte soweit als möglich zu vermeiden.
„Uns ist bewusst, dass das eine sehr belastende Situation für unsere Bewohner ist“, sagt Schneider, „und es ist eine schwierige Güterabwägung zwischen der Gesundheit der Bewohner auf der einen Seite und ihrem Recht auf soziale Kontakte auf der anderen Seite“. Der Gesundheitsschutz geht im Moment aber vor und deshalb bemühen sich die Mitarbeiter an allen Standorten, das aufzufangen, was Angehörige und Ehrenamtliche in normalen Zeiten leisten. Für demenziell erkrankte Bewohner ist die Situation besonders schwer, weil nicht immer vermittelt werden kann, warum die Tochter oder Enkelin nicht zu Besuch kommt. Dass wir nicht alles auffangen können ist klar, aber es gibt hunderte Beispiele, die zeigen, wie viel gemacht wird, seien es Terassenkonzerte, Whatsapp- und Skype-Telefonate, vertonte Andachten, Bastelstunden, Spieleabende und vieles mehr“, berichtet Schneider.
Fehlende Schutzausrüstung und viel zu späte Tests
Doch trotz aller Schutzmaßnahmen hat das Virus viele Pflegeeinrichtungen im Land erreicht. Das kann auch an der seit Wochen fehlenden Schutzausrüstung liegen und an den viel zu späten Tests. Auch die Einrichtungen der EHS sind von den steigenden Coronazahlen betroffen: Von den 86 Pflegeheimen sind aktuell 21 betroffen, 122 der insgesamt 6.300 Bewohner und 66 der rund 9.200 Mitarbeiter der EHS sind positiv auf das Covid19-Virus getestet worden. Die EHS hat alles darangesetzt, dass früh getestet wird. Nur so konnten rechtzeitig die richtigen Schutzmaßnahmen eingeleitet werden. „Die Bereitschaft zu testen, war aber von Landkreis zu Landkreis sehr unterschiedlich. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass zum Beispiel im Landkreis Esslingen nur wenige Heime positiv getestete Bewohner hat, während nach großen Testaktionen in Tübingen oder Heidenheim die Zahlen rapide ansteigen“, erklärt Schneider.
Die Schutzausrüstung kommt nach und nach in den Heimen an, so dass sich diesbezüglich die Lage etwas entspannt. Was Tests angeht haben einige Landkreise in der Zwischenzeit reagiert und flächendeckende Tests für Bewohner und Mitarbeiter in Pflegeheimen angekündigt. „Das muss noch schneller passieren“, fordert Schneider, „damit wir in allen Pflegeheimen die tatsächliche Lage kennen und schneller und gezielter reagieren können“.
„Test and Treat“: Schneller sein als das Virus
Die EHS geht einen Schritt weiter: Durch konsequente Beobachtung und tägliche Temperaturmessung werden Verdachtsfälle früh identifiziert und sofort isoliert, entweder im Einzelzimmer oder in einer Wohngruppe mit weiteren Verdachtsfällen. Natürlich ist unverzüglich ein Test noch zu veranlassen, aber die Zeit bis zum Vorliegen des Ergebnisses wird genutzt, um schnell zu behandeln und durch weitere Maßnahmen Infektionsketten früh zu durchbrechen.
Gleichzeitig kann mit ärztlicher Unterstützung früh mit der Einleitung medizinisch-therapeutischer Maßnahmen begonnen werden, um eine Verschlimmerung der Krankheit und eine Einweisung ins Krankenhaus nach Möglichkeit zu verhindern. „In den Pflegeheimen arbeitet hochqualifiziertes Pflegepersonal, das sich mit Infektionskrankheiten auskennt und das auch bereit und in der Lage ist, kranke, pflegebedürftige Menschen zu versorgen“, ist Schneider überzeugt. Wenn Schutzausrüstung vorhanden und eine ärztliche Betreuung sichergestellt ist, dann können Pflegeheime ihren Versorgungsauftrag erfüllen, die Kapazitäten ausbauen, vorrangig aus Krankenhäusern aufnehmen und das System dadurch entlasten.
Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider appelliert deshalb an die Verantwortlichen im Land und in den Kommunen: „Wer jetzt zentralen Quarantänestationen in ehemaligen Hotels oder alten Krankenhäusern das Wort redet, verkennt die damit verbundenen Belastungen für die Bewohner und unterschätzt auf sträfliche Weise die Möglichkeiten, die unsere gut ausgebaute Pflegeheiminfrastruktur in Baden-Württemberg zu bieten hat.“
Das ambulante Hausarztsystem in den Pflegeheimen stößt in der Coronakrise an seine Grenzen. Jeder Bewohner hat derzeit seinen eigenen Hausarzt und in der Folge verantworten nicht selten eine unübersehbare Anzahl an Ärzten die medizinische Betreuung in einem Pflegeheim. Dieses System ist in Zeiten von Corona und wegen der speziellen Kenntnissen, die für eine geriatrische Versorgung nötig ist, nicht aufrecht zu erhalten.
Die EHS fordert deshalb analog zu den Regelungen, die NRW-Minister Karl-Josef Laumann erlassen hat, das Hausarztprinzip für Pflegeheime aufzuheben und kurzfristig jedem Pflegeheim einen Arzt fest zuzuordnen. Damit können effektive Visiten und eine schnelle ärztliche Behandlung bei eine Coronainfektion geleistet und Therapien eingeleitet werden.
Forderungen an die Politik: Die nächsten Schritte vorausdenken
Bernhard Schneider ist sicher: „Wir müssen auch in der Pflege schneller sein als das Virus. Wir müssen von der Reaktion in die Aktion kommen und zwei Schritte vorausdenken. Dazu gehört: Schneller testen, schneller behandeln und dazu die Kompetenzen und Kapazitäten in den Pflegeheimen nutzen – und zwar lieber heute als morgen“.