Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will mit einer „stambulanten Versorgung“ eine Mischform aus ambulanter und stationärer Pflege einführen. Wenn es schon nicht zu einer großen Pflegereform ohne Sektoren reicht, dann soll es wenigstens einen „stambulanten Sektor“ geben. Die Heimstiftung sieht das kritisch und sagt: Das ist kein Konzept und schon gar keine Antwort auf die drängenden Fragen der Pflege, sondern eine neuerliche bürokratische Zumutung aus dem BMG.
von Bernhard Schneider
Bei Einführung der Pflegeversicherung konnte man sich, wie im SGB V, nur zwei Welten vorstellen: die stationäre Welt in Form von Pflegeheimen und die ambulante Welt in Form von Pflegediensten. Zwischen diesen Sektoren gab es dann schon sehr frühe Mischformen wie die Tagespflege oder die Nachtpflege oder auch die Kurzzeitpflege. Die Zuordnung zu einer dieser Sektoren entscheidet seit 1995 über die Leistungsbeträge der Pflege- und Kranken-versicherung, sowie über die Form der Leistungserbringung und die ordnungsrechtliche Einordnung. Wenn man so will, wurde damit die Wurzel des bürokratischen Übels in das Pflegesystem eingepflanzt, die seither mit viel Hingabe gedüngt wird und kaum mehr auszureißen ist.
Es gibt aber innovative Pflegeunternehmen, die daran arbeiten und seit vielen Jahren versuchen, für die individuellen Lebenssituationen ihrer Kunden irgendwo zwischen den Sektoren neue Leistungen anzubieten mit mehr Individualität und Versorgungssicherheit: das ist z.B. das Konzept des Wohlfahrtswerks im Haus am Weinberg in Stuttgart, die BeneVit Gruppe mit dem stambulanten Modell in Whyl oder die Evangelische Heimstiftung mit dem WohnenPLUS Konzept und inzwischen 11 dieser Residenzen in Baden-Württemberg. Alle Konzepte verbindet das Ziel, jenseits der ambulanten Pflege zu Hause eine Alternative zur Institution Pflegeheim mit mehr Lebensqualität, Selbstständigkeit und Teilhabe zu ermöglichen.
Alle Konzepte verbindet aber auch diese Erkenntnis: Wenn wir wirklich innovative Wohn- und Betreuungsformen für eine vielfältige Gesellschaft wollen, dann müssen wir die Sektoren komplett überwinden. Wie das funktionieren kann, hat Prof. Dr. Heinz Rothgang in seinem Gutachten für die Initiative ProPflegereform mit dem Prinzip „Wohnen und Pflege“ skizziert. Das bedeutet, dass jeder wohnen kann wo er möchte und die Pflege und Betreuung modular
dazu kommt nach einheitlichen Regeln des Leistungsrechts und des Leistungserbringungsrechts.
Die Vision des Ministers zur Zukunft der Pflege und seine politische Durchsetzungskraft reichen dafür leider nicht aus. Stattdessen wird am bestehenden System weiter herumgedoktert und ein neuer „stambulanter“ Sektor eingeführt. Das macht es weder für Kunden noch für die Leistungsanbieter einfacher: Es wird neue Abgrenzungsprobleme und Diskussionen mit Leistungsträgern und Heimaufsichten geben – Bürokratie, die nun wirklich niemand gebrauchen kann.
Das soll nicht heißen, dass das Wyhler Modell der BeneVit Gruppe ein schlechter Ansatz wäre. Im Gegenteil: Das Konzept bietet Chancen und die Beharrlichkeit der Einrichtung verdient Respekt. Das Konzept wird bei nächster Gelegenheit sicherlich auch von der Heimstiftung erprobt. Das Modell und viele andere auch, könnten aber erst recht umgesetzt werden, wenn die Sektoren tatsächlich ganz aufgehoben sind.
Das wäre eine echte Innovation und ein wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Pflegereform, mit der die Herausforderungen bewältigt und die Wurzel allen bürokratischen Übels doch mal angegangen werden könnte.
Zum Autor
Bernhard Schneider ist Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung und einer der Gründer der Initiative Pro-Pflegereform.