Ausgabe 2/2017

Meinung Es ist schon ungewöhnlich, dass ein großer Alten- hilfeträger wie die Evangelische Heimstiftung einen Kritiker der eigenen Branche zu einem Vor- trag einlädt. Welche Erwartungen hatten Sie vor der Führungskräftetagung? Ich bin schon häufig zu Vorträgen auch in Pflege- heimen eingeladen worden, aber eine Einladung zu so einem Treffen war für mich schon eine Herausforderung. Nach zwei sehr angenehmen Vorgesprächenmit Herrn Schneider habe ichmich auf diese Tagung sehr gefreut und dafür auch gerne unseren Urlaub verschoben. Außerdem war mir klar, dass sicherlich auch die Führungskräfte über die Situation in der Altenpflege Bescheid wissen. Über Pflegenotstand, Missstände, Personalmangel, usw. wird doch seit Jahrzehnten auf unterschied- lichen Ebenen gesprochen und diskutiert. Eigent- lich sind sich alle einig – kein Mensch ist für schlechte Pflege, gegen eine Verbesserung der Rahmenbedingungen und gegen eine bessere Be- zahlung der Pflegekräfte. Hatten Sie denn Angst vor dem Publikum? Nein – Angst hatte ich nicht, ich versuche selbst- bewusst mit der Veröffentlichung persönlicher Schicksale denen eine Stimme zu geben, die keine Stimme mehr haben. Ich habe auch in Bad Boll deutlich gemacht, dass ich mich nicht als Sprecher oder Vertreter der Pflegekräfte sehe, sondern ein- seitig, parteiisch und selbstverständlich auch emo­ tional die wahren Opfer vertrete: pflegebedürftige, kranke, ausgelieferte, hilflose, besonders schutzbe- dürftige und sterbende Menschen. Ich muss mir übrigens diese Beispiele nicht ausdenken. Seit vielen Jahren erhalte ich beinahe täglich zahlreiche „Hilferufe“ (E-Mails, Briefe, Anrufe) vonverzweifelten Pflegekräften und ohnmächtigen Angehörigen. In Führungskräftetagung mit Claus Fussek Auf der diesjährigen Führungskräftetagung Anfang Oktober lud die Evangelische Heimstiftung den Pflegekritiker Claus Fussek zu einem Vortrag vor knapp 150 Führungskräften ein. Die einen fanden die Einladung mutig und gut, sich offen und transparent auch mit Kritikern auseinander zu setzen, für die anderen war es unzumutbar, sich in diesem Forum so pauschal kritisieren zu lassen. Im Nachgang der Tagung berichtet Claus Fussek von seinen eigenen Eindrücken – ein kleiner Auszug: meinem Büro stapeln sich inzwischen einige 10.000 Schicksale aus der bundesdeutschen Pfle- geszene. Die meisten Menschen bitten mich um Anonymität – es herrscht meistens ein gespens- tisches Klima der Angst und des Schweigens. Ich bin immer wieder fassungslos, dass so viele Men- schen, die in der Pflege Verantwortung tragen, Bescheid wissen, mitmachen, wegschauen und schweigen. Es macht mich auch traurig, dass solche Zustände leider auch in vielen Einrichtungen kirchlicher Trägerschaft vorkommen. Und es sind keine „bedauerlichen Einzelfälle“ oder „nur ein paar schwarze Schafe“. Ich erwarte, dass kirchliche Einrichtungen auch Schutzräume, wie zumBeispiel beim Kirchenasyl, sein müssen. Wie waren die Reaktionen der Zuhörer auf der Tagung? Ich möchte betonen, dass die Atmosphäre in Bad Boll sehr angenehm, interessiert und aufgeschlossen war. Zunächst war ich auch erstaunt, dass nach meinem Vortrag nicht spontan mir sehr bekannte ritualisierte Reaktionen geäußert wurden, wie „Sie machen die Pflege schlecht“, „stellen dieMitarbeiter pauschal an den Pranger oder unter Generalver- dacht“. Ich habe im Publikum sehr viel Nachdenk- lichkeit, Betroffenheit, Sensibilität erlebt. Auch nach der Veranstaltung, beim Abendessen erfuhr ich sehr viel freundliche Zustimmung und selbst- kritische Rückmeldungen. Ich hatte auch das Gefühl, dass die meisten Bescheid wissen und einige forderten mich auf nicht aufzugeben. Bescheid worüber? Ich habe den Eindruck, dass „die Gesellschaft“ die Zustände in zahlreichen Pflegeheimen, Kliniken, aber auch in der häuslichen Pflege immer noch Claus Fussek und Bernhard Schneider „Ich erwarte, dass kirchliche Einrich- tungen auch Schutzräume, wie zum Beispiel beim Kirchenasyl, sein müssen.“ 18 „Aus der Heimstiftung“ 2/2017

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