Ausgabe 1/2018

Meinung Sie sprechen häufig von den Geburtsfehlern der Pflegeversicherung. Welche sind diese und was haben sie für Folgen für das heutige System? Der zu enge Pflegebedürftigkeitsbegriff war ein Fehler, der aber mit den Reformen der letzten Legis­ laturperiode korrigiert wurde. Ein zweiter Fehler liegt darin, dass die vomBundesverfassungsgericht als „Pflegevolksversicherung“ bezeichnete Versi- cherung in zwei Zweigen organisiert ist, der Sozialen und der Privaten Pflegepflichtversicherung. Dabei sind die Privatversicherten nicht nur einkommens- stärker, sondern auch gesünder und jünger und produzieren deshalb – bei in der Höhe gleichen Leistungsansprüchen – nur ein Drittel der Ausga- ben der Sozialversicherten. Diese unsolidarische Risikoselektion ist ein Geburtsfehler, der auch in dieser Legislaturperiode nicht behandelt werden wird. Die zwei Geburtsfehler, auf die wir in un- serem Gutachten eingehen und bei denen wir Hoffnung auf Änderung haben, sind die aus dem Krankenversicherungsrecht übernommene sekto- rale Fragmentierung der Versorgungslandschaft und der unzureichende Versicherungsschutz, der keine Lebensstandardsicherung erlaubt. Was bedeutet sektorale Fragmentierung? Bei formeller Pflege durch Pflegeeinrichtungen un- terscheiden sich derzeit sowohl die Leistungsansprü- che der Versicherten als auch die Vergütungsansprü- che der Leistungserbringer als auch die ordnungs- rechtlichen Regeln nach dem Lebensort. Dass infor- melle Pflege etwadurchAngehörige anders behandelt wird als formelle Pflege, ist gut begründbar, nicht zuletzt weil Letztere auf sozialversicherungspflichti- gen Beschäftigungsverhältnissen beruht, während das Pflegegeld steuer- und beitragsfrei ausgezahlt wird. Nicht plausibel ist dagegen, dass die gleiche Interview mit Gesundheits- experte Heinz Rothgang Im Mai 2017 veröffentliche der Bremer Professor für Gesundheitsökonomie, Heinz Rothgang, im Auftrag der Initiative Pro-Pflegereform ein Gutachten zur Machbarkeit der Reformvorschläge der Pflegeversicherung. In seinem Gutachten zeigt er, dass die beiden Kernelemente – Welt ohne Sektoren und Pflegeversicherung mit fixem Eigenanteil – möglich und finanzierbar sind. professionelle Pflegeleistung anders behandelt wird, wenn sie in der eigenen Häuslichkeit oder in einer Einrichtung erbracht wird. Gerade bei innovativen ambulantenWohnformen führt das zu erheblichen Abgrenzungsproblemen. Die starre Trennung von ambulantem und stationärem Sektor wirkt dadurch als Reformbremse und verhindert die Entwicklung innovativerVersorgungsmodelle. Bei einemHeimein- tritt werden zudem die zuvor bestehenden infor- mellen Netzwerke zurückgelassen, da Heimversor- gung grundsätzlich als umfassend gedacht wird. Dies könnenwir uns angesichts des bereits herrschenden und für die Zukunft noch verstärkt zu erwartenden Pflegenotstands gar nicht leisten. Wie lässt sich dieser Geburtsfehler beheben? Ziel muss es sein, die Grenzen zwischen ambulanter, teilstationärer und stationärer Pflege endgültig zu überwinden. PflegebedürftigeMenschen haben das Recht auf gesellschaftliche Partizipation und eine individuelle, möglichst selbstbestimmte Lebensfüh- rung – unabhängig von ihrem Wohnort, ihrem Alter oder ihren Beeinträchtigungen. Das Gutachten zeigt, wie die Unterschiede zwischen stationärer und ambulanter Pflege abgebaut werden können. Zen- traler Anknüpfungspunkt für eine Angleichung der Sektoren ist die Einführung gleicher Vergütungs- formen, die bei Pflege zu Hause oder bei Pflege in einem Heim nach denselben leistungsrechtlichen und leistungserbringungsrechtlichen Prinzipien funktioniert. Außerdem ist in dieser Reformperspek- tive die Verlagerung der Finanzierungsverantwor- tung für alle Leistungen dermedizinischen Behand- lungspflege „in einen Zweig der Sozialversicherung“ erforderlich. Damit wird die Pflege nicht mehr ent- lang der Trennlinie „ambulant/stationär“, sondern durch„Wohnen/Pflege“ organisiert. Ordnungsrecht- Heinz Rothgang „Ziel muss es sein, die Grenzen zwi­ schen ambulanter, teilstationärer und stationärer Pflege endgültig zu überwinden.“ 14 „Aus der Heimstiftung“ 1/2018

RkJQdWJsaXNoZXIy MTU2Njg=