Ausgabe 1/2019

seines Lebens. Es ist eine Art Gegengeschichte. Jakob ist auf dem Weg zurück, um sich mit Esau zu versöhnen. Seine Herden, seine Frauen und Kinder, seinen ganzen Reichtum, hat er am Ufer gelassen; er ist allein, als er in der Nacht am Fluss Jabbok mit einer unbekannten Macht ringt. Noch einmal geht es umden Segen – jetzt aber nicht mehr in diesem äußeren Sinne von Erfolg, Land und Besitz, sondern in einem inneren Sinn. Es geht um die eigene Integrität. Um die Frage, ob er trotz des Betrugs, der am Anfang steht, akzeptiert und an- genommen ist – von der Familie, von Gott selbst. Am Ende dieser Nacht ist Jakob verletzt, er hinkt. Aber er geht der Sonne entgegen. Hinkend geht er aufrecht. Er ist ein anderer geworden oder in einem tieferen Sinne er selbst: Jakob ist jetzt Israel. Max Beckmann hat die beiden Gottesbegeg- nungen Jakobs in einem einzigen Holzschnitt dargestellt. Wir sehen Gott, der Jakob auf der Leiter hält. Wie Jakob sich festhält an dieser Got- tesgestalt und doch zu fallen droht in die Tiefe und Dunkelheit des Flusses. Von oben aber, von der Spitze der Leiter, strahlt Licht ins Bild – die aufgehende Sonne. Es ist, als zöge sie den Fallenden nach oben. „Ich bin inmeinem Leben oft gefallen, sei es in Beziehungen oder im Beruf, emotional oder körperlich, doch immer gab es einen Tram- polineffekt, der bewirkte, dass ich letztlich nach oben gefallen bin“, schreibt der Franziskanerpater Richard Rohr. Darum geht es: sich ganz und gar einzulassen auf das Leben, auch wenn es uns verwundet, und auf die Kraft, die uns nach oben zieht. Auf Gott, dem wir in Träumen begegnen können, im Nichtstun, im Gebet. Das orthodoxe Herzensgebet ist so eine Möglichkeit, sich auf das Wesentliche zu zentrie- ren und Ruhe, Gelassenheit und Frieden zu finden. Es geht dabei nicht um viele Worte, sondern ei- gentlich nur um einen Gedanken: „Jesus Christus, erbarme dich meiner“ oder das „Liebe umgibt mich“. Wer sich im Ausatmen und Einatmen da- von tragen lässt, kann spüren, wie der Geist zur Ruhe kommt. „Diese mystische Erfahrung setzt allerdings voraus, dass wir von Barrieregefühlen frei geworden sind“, schreibt die Kieler Theologin Sabine Bobert; Gefühlen wie Hass, Angst, Wut, Neid, Lähmung und Zweifel. Solche Gefühle entfremden uns voneinander und von uns selbst; sie schneiden uns von unserer Wesensmitte ab. Im Alltag unterdrücken wir sie oft, schieben sie einfach beiseite – aber wenn plötzlich Zeit dafür ist, im Urlaub, in Krankheit oder auch im Alter, können die alten Gespenster noch einmal richtig munter werden. „Sie wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen“, meint spitzbübisch Bri- gitte Hieronimus in ihremBuch „Mut zum Lebens- wandel“. Situationen und Menschen, die uns schwierige Erfahrungen in Erinnerung rufen, nennt sie „Entwicklungshelfer“, „weil sie dazu beitragen, das Blockierte in uns wieder wahrzu- nehmen.“ Uns zu versöhnen mit alten Widersa- chern, mit den Ecken und Kanten des eigenen Lebens. Der dunkle Gott, der Jakob am Jabbok begegnet ist, hatte genau diese versöhnende Kraft. Jakobs Reise ist mir zum Bild geworden. Wir müs- sen uns mit unseren Schatten auseinandersetzen und mit unserer tiefsten Sehnsucht. Leicht ist das nicht. Aber wir werden ankommen. Cornelia Coenen-Marx ehemalige Landeskirchen- rätin der Evangelischen Kirche im Rheinland und Rundfunksprecherin. „Aus der Heimstiftung“ 1/2019 21 Impuls sondern „Wohin“

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