Ausgabe 1/2025

Gute Pflege Das Magazin der Evangelischen Heimstiftung 1 | 2025 Schwebend. — Lösungen suchen und Richtung finden

2 | Gute Pflege | 1_2025 | Impressum Verantwortlich: Bernhard Schneider Redaktion: Ann-Christin Kulick Telefon 0711 63676-125 redaktion@ev-heimstiftung.de Nicht gekennzeichnete Artikel sind von der Redaktion verfasst. Anschrift Redaktion Gute Pflege. Hackstraße 12, 70190 Stuttgart Gestaltung: AmedickSommer GmbH, Stuttgart Fotos: alle Fotos Evangelische Heimstiftung mit Ausnahme von: – Adobe Stock: S.1, 3 (M.) Anthichada; S.2 (o.l.), 4, 5, 6 Smileus; S.2 (o.M.), 11 Sabana; S.2 (o.r.), 20 Thares2020; S. 3 (o.), 27 Ievgen Skrypko; S. 9 (u.) Jürgen Fälchle; S.13 Schmidt; S. 22, 23 Grispb; S. 25 PlatypusMi86; S. 29 Mirko; S. 35 (u.) Robert Kneschke – iStock: S.7 PIKSEL; S. 8 Jacob Wackerhausen – Shutterstock: S. 16 Pixel-Shot; S. 29 (u.) Freud – Lutz Härer: S.18 Produktion und Druck: Offizin Scheufele, Druck und Medien GmbH + Co.KG Nachdruck und elektronische Verwendung nur mit schriftlicher Genehmigung. „Gute Pflege. Das Magazin der Evangelischen Heimstiftung“ erscheint dreimal jährlich. Auflage: 15.000 Herausgeber: Evangelische Heimstiftung GmbH www.ev-heimstiftung.de Der Bezugspreis ist durch den Beitrag abgegolten. Im Magazin werden, soweit möglich, neutrale, alle Geschlechter einschließende Begriffe verwendet – oberstes Gebot bleibt jedoch die Verständlichkeit der Sprache. 10 20 04 Seelenwohl. — Seelsorge im Pflegeheim Pflege der Seele 4 | Seelenwohl. Seelsorge im Pflegeheim 10 | Erfahrungen. Als Seelsorger in Bad Sebastiansweiler 14 | Gefragt. Martin Luscher Personalien 17 | Neue Führungskräfte. Proud to Care 18 | Kommentar (E)inSicht Pflege im Fokus 20 | Gut gemischt. Personalbemessung in der Altenpflege Pro-Pflegereform 27 | Zukunft Pflege. Historischer Meilenstein für die Pflegeversicherung 30 | Gefragt. Initiative Pro-Pflegereform Neues 34 | In Bewegung.

| Gute Pflege | 1_2025 | 3 Gute Pflege. Das Magazin der Evangelischen Heimstiftung. Liebe Leserinnen, liebe Leser, ist ein schwebender Zustand eigentlich gut oder schlecht? Wir schauen in dieser Ausgabe positiv darauf. Denn in Phasen der Veränderung ist alles möglich. Oft suchen wir die eine Lösung, aber manchmal ist es doch viel mehr Wert, die Richtung zu finden – dann steht das Ziel klar vor Augen. Das trifft auf den ersten Schwerpunkt dieser Ausgabe zu. In der Seelsorge gibt es selten Lösungen, aber es gibt Möglichkeiten der Unterstützung – auch in einer Welt, in der sich immer mehr Menschen von Kirche und Glauben abwenden. Welche Verantwortung haben wir dabei als diakonisches Unternehmen? Auch der Mangel an Pflegekräften in Deutschland wird morgen nicht gelöst sein. Mit der neuen Personalbemessung kommen wir dem Ziel aber ein Stück näher. Sie bietet neue Perspektiven auf die Organisation im Pflegeheim. Damit beschäftigt sich der zweite Schwerpunkt dieser Ausgabe. An die Personalausstattung schließt sich unmittelbar die Frage der Finanzierung an. Und hier liegt tatsächlich der Lösungsvorschlag der Initiative Pro-Pflegereform auf dem Tisch. Die Verantwortung für die Umsetzung liegt jetzt bei der Politik. In einem weiteren Bereich hat sich die EHS, gemeinsam mit ihren über 10.000 Mitarbeitenden, auf den Weg gemacht: Stolz zu sein auf ihren Pflegeberuf und das auch zu zeigen. Deshalb gibt es in diesem Jahr eine neue Rubrik in der Guten Pflege: „Proud to Care“. Viel Freude beim Entdecken. Die Gute-Pflege-Redaktion Gute Pflege Das Magazin der Evangelischen Heimstiftung 1 | 2025 Schwebend. — Lösungen suchen und Richtung finden 27

4 | Gute Pflege | 1_2025 | Seelenwohl. — Seelsorge im Pflegeheim Pflege der Seele

| Gute Pflege | 1_2025 | 5 Bei der EHS, mit ihrem klaren diakonischen Profil, hat die religiöse Seelsorge stets einen besonderen Stellenwert. Was genau bedeutet überhaupt der Begriff Seelsorge? Seelsorge meint zunächst eine be- stimmte Art des Begleitens und auch der Kommunikation. Es geht darum, an der Seite eines Menschen zu sein und zu bleiben. Im Alltäglichen und insbesondere in herausfordernden Lebenssituationen. Dabei geht es vor allem darum, urteilsfrei zuzuhören, mit auszuhalten und vielleicht einen anderen Blick auf die Dinge anzubieten. Gleichzeitig ist die Anforderung nicht, dass die begleitende Person etwas Grundsätzliches an der Situation ändern kann oder soll. Sondern es geht darum, das Gegenüber in seiner Herausforderung zu sehen und nicht allein zu lassen. Das gilt für Kundinnen und Kunden genauso wie auch für Mitarbeitende der EHS. In diesem Text soll jedoch die Perspektive der Menschen, die in unseren Einrichtungen leben, im Mittelpunkt stehen. „Im Pflegeheim können das ganz alltägliche Themen sein, aber auch ganz existenzielle, wie das Ende des Lebens. Daraus ergeben sich häufig Fragen nach dem Sinn oder das Bedürfnis nach einem resümierenden Blick zurück. Dabei kann der Blick auf das eigene Leben ganz unterschiedliche Emotionen hervorrufen. Es können sich Dankbarkeit und eine „Lebenssattheit“ einstellen mit dem Blick auf ein langes und erfülltes Leben“, erklärt Pfarrer Dr. Salomo Strauß, der die Stabsstelle Theologie und Ethik bei der Evangelischen Heimstiftung leitet. „Der Blick zurück mag auch schmerzhaft sein, wenn er Unerledigtes oder nicht mehr zu Lösendes > > > Mit guter Pflege setzen sich die Mitarbeitenden der Evangelischen Heimstiftung dafür ein, Menschen auch bei Pflegebedarf ein gutes Leben zu ermöglichen. Dabei steht nicht nur das körperliche Wohlergehen im Mittelpunkt, sondern auch ein möglichst hohes Maß an Selbstverantwortung und Teilhabe – und das seelische Wohlbefinden. Seelsorge – Die persönliche geistliche Begleitung und Unterstützung eines Menschen.

6 | Gute Pflege | 1_2025 | aufzeigt. Hier kann Seelsorge eine andere Perspektive anbieten und tröstende Anwesenheit bedeuten.“ Da sich jeder Mensch auf eine einzigartige Art und Weise mit persönlichen Themen auseinandersetzt, soll auch die seelsorgliche Begleitung individuell sein. Seelsorge ist zunächst eine Art der „religiösen Kommunikation“. Das meint nicht, dass dabei immer über Gott oder den Glauben gesprochen werden muss oder Gebete Teil des Vorgangs sind. Religiöse Kommunikation beschreibt hier, wo Seelsorge ihren Ursprung hat: im Glauben. Es geht um existenzielle Fragen nach Leben, Tod und Sinn. Seelsorge ist dabei ein Angebot, das versucht, diesen ungreifbaren Themen und Fragen einen würdigen Raum zu geben. „Dabei kann es für Menschen hilfreich und tröstlich sein, sich auf ihren Glauben auszurichten, der Sinnangebote gibt. Der Glaube oder spirituelle Überzeugungen bieten keine einfachen Lösungen oder Antworten, aber sie ordnen existenzielle Erfahrungen in einen weiteren Horizont ein. An dieser Stelle kann das gemeinsame Beten eines altbekannten Psalms oder Gebets heilsam sein. Oft hilft auch, wenn wir Bereitschaft zeigen, in Ruhe zuzuhören. Eben keine einfachen Antworten auf die Fragen geben, sondern die Spannung aushalten“, sagt Lena Moeller, auch sie arbeitet als Pfarrerin für die EHS. Über zwei Jahre hat sie als Seelsorgerin je einen Tag pro Woche in zwei Pflegeheimen in Balingen verbracht. „Es braucht genau diese Regelmäßigkeit, um Beziehungen zu den Bewohnerinnen und Bewohnern aufzubauen. Seelsorge braucht Vertrauen und das muss erst einmal entstehen“, erklärt sie. Nicht immer muss es direkt das Gespräch über existenzielle Themen sein. Die gemeinsam verbrachte Zeit ist oft schon > > > „ Alltagsbegleitungen leisten beispiels- weise durch ihr schlichtes Dasein und Zuhören einen nicht zu unter- schätzenden seelsorglichen Beitrag.“ Dr. Salomo Strauß, Pfarrer und Leiter der Stabsstelle Theologie und Ethik Pflege der Seele

| Gute Pflege | 1_2025 | 7 > > > 5. Respekt gegenüber individuellem Verständnis von Glauben: Religiöse und spirituelle Überzeugungen sind vielfältig und das ist in Ordnung. 6. Ressourcen nutzen: Bei Bedarf können auch externe Seelsorgerinnen und Seelsorger zur Unterstützung einbezogen werden. 7. Selbstfürsorge: Auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger sollten auf ihre emotionale Gesundheit achten. Regelmäßige Pausen und Gespräche mit anderen Mitarbeitenden können helfen, Stress abzubauen. Im Alltag leisten Mitarbeitende unterschiedlichster Berufsgruppen Seelsorge. „Auch wenn sie das selbst nicht so betiteln würden. Alltagsbegleitungen leisten beispielsweise durch ihr schlichtes Dasein und Zuhören einen nicht zu unterschätzenden seelsorglichen Beitrag“, sagt Dr. Salomo Strauß. Seelenpflege genug. „Gerade für Menschen, die keinen Besuch von Angehörigen bekommen, ist das ein wahnsinnig wichtiges Thema. Seelsorge ist für alle da – sie macht keine sozialen oder kul- turellen Unterschiede. Sie bewertet nicht, ist einfach da – hört zu, auch den Themen, die sonst niemand mehr hören will.“ Seelsorge hat viele Dimensionen: 1. Zuhören: Den Bewohnerinnen und Bewohnern die volle Aufmerksamkeit schenken. Oft hilft es schon, einfach da zu sein und zuzuhören. 2. Empathie zeigen: Der Versuch, sich in die Lage der Bewohnerinnen und Bewohner zu versetzen, lohnt sich. Sie schätzen das Verständnis für ihre Gefühle und Sorgen. 3. Vertrauen aufbauen: Zuverlässigkeit und Respekt schaffen eine vertrauensvolle Beziehung. 4. Offene Kommunikation: Manche Menschen benötigen eine Ermutigung, um ihre Gedanken und Gefühle offen zu teilen. Offene Fragen können dabei helfen.

8 | Gute Pflege | 1_2025 | > > > Glaubenspraxis im Pflegeheim Neben der individuellen Seelsorge legt die EHS auch großen Wert auf religiöse Veranstaltungen im Pflegeheim. „Das können kleine Andachten auf dem Wohnbereich sein, in denen ein oder zwei bekannte Lieder gesungen, gemeinsam ein Psalm gebetet und ein kleiner inhaltlicher Impuls gegeben werden, über Gedenkgottesdienste für verstorbene Bewohnerinnen und Bewohner, bis hin zu regulären Gottesdiensten, die oft im konfessionellen Wechsel in den Einrichtungen gefeiert werden“, berichtet Lena Moeller. „Die Angebote stoßen auf große Beliebtheit und rege Teilnahme.“ Allerdings wird die Organisation zunehmend anspruchsvoller: Pfarrpersonen fehlen, nicht immer wird die Kapazität für Gemeindemitglieder im Pflegeheim eingeräumt. Sicherlich, Ehrenamtliche können manche Aufgaben übernehmen, Andachten halten, Besuchsdienste wahrnehmen. „Auch der Einsatz von Ehrenamtlichen bedeutet Kirche vor Ort. Dennoch: Das ersetzt nicht die Präsenz von Pfarrpersonen und dazu stehen wir im engen Austausch mit den Kirchengemeinden. Die Evangelische Heimstiftung versteht ihre Einrichtungen explizit als Teil der örtli- chen Kirchengemeinde. Die Bewohnerinnen und Bewohner gehören in die seelsorgliche Verantwortung der Kirchengemeinden und der Pfarrperson vor Ort und zählen auch als deren Gemeindemitglieder. Gerade in herausfordernden Lebenssituationen ist das auch unbedingt erforderlich. Bewohnerinnen und Bewohner teilen mit ihnen existenzielle Lebenserfahrungen – da braucht es an dieser Stelle ausgebildete Seelsorger, ob hauptamtliche oder qualifizierte Ehrenamtliche“, sagt Dr. Salomo Strauß. Wir gestalten die Zukunft Immer mehr Menschen distanzieren sich von der Kirche. Doch noch haben Glaube und Gebet einen hohen Stellenwert für viele Menschen in den Pflegeeinrichtungen. „In absehbarer Zeit folgt aber eine Generation Menschen, die im Lauf ihres Lebens den Kontakt zur Kirche immer mehr verloren hat. Dennoch begegnen sie am Ende ihres Lebens religiösen Fragestellungen: Pflege der Seele

| Gute Pflege | 1_2025 | 9 Was bleibt von meinem Leben und was macht der Sinn des Lebens aus? Auch da gilt es zu begleiten“, findet Lena Moeller. Glaube und Spiritualität werden auch für sie weiterhin eine Rolle spielen. Denn es geht um mehr als nur eine Religionszugehörigkeit. Nämlich eine persönliche Haltung, seinen Glauben, seine Überzeugungen und seine Erfahrungen mit allem, was über die eigene Person hinausreicht, wahrzunehmen und zu leben. Seelsorglich- spirituelle Begleitung in der Pflege hilft Menschen auszuhalten, was schmerzt, um dabei zu entdecken, was sie stärkt. „Eine lebendige Beziehung zu Gott hilft bei der Suche nach dem Sinn im Leben“, sagt Lena Moeller. Vielfalt im Glauben Die EHS pflegt Vielfalt und Offenheit. Das gilt auch für die Seelsorge. Immer mehr Mitarbeitende haben keinen christlichen Hintergrund. „Dennoch ermöglichen sie Bewohnerinnen und Bewohnern christliche Rituale und unterstützen sie wo möglich. „Meine Beobachtung ist, dass unter Menschen mit verschiedenen religiösen Prägungen der Umgang damit sogar noch bewusster ist – man versucht zum Wohle der anderen einen guten Umgang damit zu finden und auf die jeweiligen Bedürfnisse einzugehen. Schlussendlich geht es darum, Bedürfnisse von Menschen wahrzunehmen und Lösungen dafür zu finden – auch unabhängig von der eigenen Überzeugung“, sagt Lena Moeller. „ Meine Beobachtung ist, dass unter Menschen mit verschiedenen religiösen Prägungen der Umgang damit sogar noch bewusster ist – man versucht zum Wohle der anderen einen guten Umgang damit zu finden und auf die jeweiligen Bedürfnisse einzugehen.“ Lena Moeller, Stabsstelle Theologie und Ethik

10 | Gute Pflege | 1_2025 | Erfahrungen. — Als Seelsorger in Bad Sebastiansweiler Schon seit geraumer Zeit hatte mich der damalige Geschäftsführer der Klinik Bad Sebastiansweiler eingeladen, ob ich nicht einmal für eine Woche die Seelsorge im Haus übernehmen möchte. Im Wechsel mit anderen Kolleginnen und Kollegen im Ruhestand. Ich gebe zu, dass ich die Anfrage hinhaltend beantwortet habe. Aus verschiedenen Gründen. Man kann ja immer sagen, man hat keine Zeit. Aber es war durchaus auch die Frage: Kann ich so etwas überhaupt? Es ist ja nicht so, als sei man als Dekan im Ruhestand auch gleich der geborene Krankenhausseelsorger. Aber schließlich habe ich mich doch aufgerafft und zugesagt. Schließlich ist so eine Aufgabe für einen Dekan im Ruhestand und erst recht für den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden ein Perspektivwechsel, den man sich gut einmal zumuten kann. Es hat ja auch etwas für sich, zu erleben, wie die Dinge, über die man am grünen Tisch immer wieder entscheiden muss, „in echt“ aussehen. Man soll ja vom diakonischen Profil auch nicht immer nur reden, sondern sollte sehen, was es im richtigen Leben bedeutet. Also packe ich mein Köfferchen und melde mich montags vormittags in Bad Sebastiansweiler an der Rezeption. Ganz wichtig: Ich bekomme ein Namensschild, das mich als Hausseelsorger gewissermaßen akkreditiert, und einen gewaltigen klappernden Schlüsselbund. Der wichtigste Schlüssel ist der zum „Fächle“, in dem sich jeden Tag die Liste der zugehenden und abgehenden Patientinnen und Patienten vorfindet. Meine erste Amtshandlung ist das mittägliche Tischgebet, pünktlich um zwölf Uhr. Ich setze mich an meinen Platz, der mit einer Glocke und einem Mikrofon ausgestattet ist. Wozu die Glocke dient, weiß ich nicht. Ich nehme das Mikrofon und stelle mich in die Mitte, klopfe ein bisschen, ob es auch tut, und – der ganze Saal wird still. Je nach dem Therapieplan sind manche schon früher da, andere kommen etwas später. Ich stelle mich vor. Seelsorge spielt auch in der Rehaklinik der EHS in Bad Sebastiansweiler eine wichtige Rolle. Martin Luscher, stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der EHS und Dekan i.R. übernimmt diese ehrenamtliche Aufgabe seit 2020 für eine Woche im Jahr. Ein persönlicher Bericht über seine Erfahrungen und Erlebnisse. > > > Pflege der Seele

| Gute Pflege | 1_2025 | 11 „ Wer versammelt sich da als meine ‚Gemeinde‘? Eine ziemlich bunte Schar. Ältere und viele jüngere Menschen.“ Martin Luscher

12 | Gute Pflege | 1_2025 | > > > Des Morgens versammeln sich wieder alle zum Frühstück. Ich bin ganz überrascht, wie viele sich für die abendliche Andacht, Gebete und Auslegung bedanken – alles wird in die Zimmer übertragen. Und es nehmen viele daran teil. Manche entschuldigen sich sogar, dass sie nur im Zimmer teilnehmen: „Ich kann nicht so lange sitzen, und da kann ich das Bein hochlegen…!“ Ich wundere mich und freue mich, wie intensiv die geistlichen Beiträge wahrgenommen werden. Es sind auch auffallend viele Katholiken, die das tun. Tagsüber versuche ich bei den Neuankömmlingen Willkommensbesuche zu machen. Wo ich mein „Grüß Gott“ sage, werde ich nicht selten ohne alle Umschweife in eine Lebensgeschichte hineingenommen, die oftmals eine Leidensgeschichte ist. Aber es wird auch mit Stolz und Freude von den Kindern, den Enkeln erzählt, die glücklich machen. Eine unglaubliche Offenheit – obgleich ich ja durch nichts anderes ausgewiesen bin als durch mein Namensschildchen. Es gibt doch ein riesiges Kapital an Vertrauen, das der Kirche in ihrer seelsorgerlichen Funktion entgegen gebracht wird. Dann wird es richtig andächtig, alle lauschen dem Gebet, nicht wenige sagen danach „Amen“. Das finde ich erstaunlich, in einer so großen zusammengewürfelten Schar. Und so ist es die ganze Woche über, morgens und abends. Und ein paar aufmunternde, lockere Worte dienen auch der Entkrampfung. Wer versammelt sich da als meine „Gemeinde“? Eine ziemlich bunte Schar. Ältere und viele jüngere Menschen. Die meisten mit Gehhilfen unterschiedlichster Art, manche erheblich eingeschränkt. Manche sitzen fröhlich am Tisch und lachen mit den Nachbarn. Andere kommen ächzend, klagen vernehmlich. Manche essen zufrieden ihre Portion. Andere haben eine Dose mit hausgeschlachteter Wurst von daheim mit, die sie mit Appetit verzehren. Alle werden freundlich und liebevoll versorgt von den Mitarbeiterinnen im Saal, die für jeden ein gutes Wort parat haben. Abends ist dann die Andacht, 20 Minuten lang, musikalisch begleitet von einer Bewohnerin im Betreuten Wohnen, die sich sorgfältig vorbereitet. Etwa zehn Personen versammeln sich in dem schönen Andachtsraum und hören sehr aufmerksam und konzentriert zu. Manche bekreuzigen sich: Die Andacht ist offensichtlich ökumenisch. Nach der Andacht ist das Haus sehr ruhig. Die Menschen sind von den Therapien und Anwendungen sichtlich erschöpft und ruhebedürftig. Pflege der Seele Die Rehaklinik der EHS in Bad Sebastiansweiler

| Gute Pflege | 1_2025 | 13 Schwätzle im Vorübergehen bis zum sehr persönlichen Gespräch und zur Predigt. Es ist keine bloße Behauptung, dass wir eine diakonische Einrichtung sind. Ein echter Schatz, der zu pflegen und zu bewahren ist. Vielleicht auch ein Unterscheidungskriterium. Diakonie und Seelsorge gehört zu unserer DNA. Den Abschluss bildet der sonntägliche Gottesdienst. Es ist eigentlich kein Platz mehr frei im Andachtsraum. Das ist doch auch eine überraschende Erfahrung. Daheim im Sonntagsgottesdienst ist das ja meistens nicht der Fall. Die Menschen kommen offensichtlich gern. Es gibt viel Resonanz. Ich gehe selbst ganz erfüllt wieder nach Hause. Eine intensive, auch fordernde Woche. So viel an Kommunikation – vom „ Es gibt doch ein riesiges Kapital an Vertrauen, das der Kirche in ihrer seelsorgerlichen Funktion entgegen gebracht wird.“ Martin Luscher

14 | Gute Pflege | 1_2025 | Martin Luscher. — Gefragt Als Dekan i.R. können Sie auf vielfältige Erfahrung zurückblicken. Welchen Stellenwert sollte die Seelsorge in einem Pflegeheim haben? Die Seelsorge hat einen hohen Stellenwert. Ich selbst halte aktuell noch etwa einmal im Monat den Gottesdienst im Haus auf der Waldau in Stuttgart. Das machen auch Ruhestandspfarrer, weil den aktiven Kollegen manchmal die Kapazität fehlt. Ein Ruhestands-Kollege und ich, wir wechseln uns ab. Das ist immer ein besonderes Erlebnis, finde ich. Da stellt man einfach fest, man kommt hin, der ganze Raum ist voll. Und die Leute kommen nicht nur hin, weil sie eben gebracht werden, sondern das ist ihnen wichtig. So ein Gottesdienst geht etwa 30 bis 40 Minuten, die Musik spielt eine große Rolle und das gibt den Menschen sowohl Wochenstruktur als auch Kraft und Halt. Ich gehe da immer ganz befriedigt nach Hause. Inwiefern unterscheidet sich die Seelsorge im Pflegeheim von der Gemeindearbeit? Man könnte meinen, da geht es immer ums Sterben, aber das ist nicht so. Die Menschen leben dort und haben ihre Probleme und haben ihre Freuden. Man darf sich das nicht so schwer und „ Wir verbreiten ja keine Ideologie, sondern leben eine bestimmte Haltung.“ Martin Luscher Die Begleitung von Menschen in allen Lebens- phasen ist ein Teil der guten Pflege. Inwieweit entsteht für die Heimstiftung hier eine besondere Verantwortung im Zusammenhang mit ihrem diakonischen Profil? Die Gute Pflege im Gespräch mit dem stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzen- den der EHS und Dekan i.R. Martin Luscher. Pflege der Seele

| Gute Pflege | 1_2025 | 15 belastend vorstellen. Das kann auch ganz lustig sein. Da sind ganz humorvolle Leute, die sich da versammeln. Das ist durchaus auch heiter. Die EHS ist ein Unternehmen mit klarer diakonischer Profilierung. Entsteht daraus eine besondere Verantwortung hinsichtlich der Seelsorge? Für uns ist es definitiv ein wichtiges Thema. Man müsste jetzt überprüfen, inwiefern die Seelsorge auch in Einrichtungen ohne diakonisches Profil eine Rolle spielt. Aber ich würde sagen, für uns als Evangelische Heimstiftung gehört die Seelsorge zur DNA. Und ja, wir haben auch eine Verantwortung, das kann ich mir nicht anders vorstellen. Es ist für uns einfach wichtig – für viele Mitarbeitende, für Bewohnerinnen und Bewohner – und das sollten wir pflegen. Immer weniger Menschen fühlen sich den großen christlichen Kirchen aktiv zugehörig – nicht wenige distanzieren sich sogar ganz bewusst. Ist es da noch zeitgemäß, ein diakonisches Unternehmen zu sein? Ich finde, das ist nicht zeitabhängig, wir sind ja keine Abteilung der Kirche und ein diakonisches Haus in Anspruch zu nehmen, ist nicht identisch damit, Kirchen zugehörig zu sein. Sondern es geht um unsere Motivation und die kommt vom Glauben her. Das sagen wir, das glauben wir und das ist so. Diakonische oder christliche Werte, menschliche Werte, wie man eigentlich sagen könnte, sind doch genau, was unsere Gesellschaft gerade gut brauchen kann. Ich denke da zuallererst an Nächstenliebe. Wieso fehlt trotzdem vielen der Zugang? Meine Erfahrung ist, dass Menschen den Dingen oft kritisch gegenüberstehen, solange sie keine existenzielle Begegnung damit hatten. Sobald Menschen in eine wirklich existenzielle Berührung mit solchen Lebenssituationen kommen, sieht die Sache ganz anders aus. Da gibt es erheblich mehr Offenheit und Ansprechbarkeit. Und wir verbreiten ja keine Ideologie, sondern leben eine bestimmte Haltung. Schließt sich da auch der Kreis zur Altenpflege? Damit, dass der Glaube am Ende des Lebens an Relevanz gewinnt? Es gibt auch immer mehr ältere Menschen, die keine Beziehung mehr zum Glauben haben, aber nichtsdestotrotz glaube ich, dass die tägliche Arbeit all unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelebter Glaube ist. Das ist Glaube im > > > „ Aber ich würde sagen, für uns als Evangelische Heimstiftung gehört die Seelsorge zur DNA.“ Martin Luscher, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der EHS und Dekan i.R.

16 | Gute Pflege | 1_2025 | > > > Vollzug, könnte man sagen. Das ist auch nicht unbedingt abhängig von vielen salbungsvollen Worten. Sondern die Menschen reden oft davon, dass man den Geist des Hauses spürt. Und das ist genau der Punkt. Man muss den Geist des Hauses spüren. Das ist ein Qualitätsmerkmal. Und das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Ältere Menschen können oft aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nicht mehr aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen, auch wenn sie es wollen. Was sollte Kirche für diese Menschen leisten – und wie können wir als Heimstiftung unterstützen? Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Pflegeheims zählen genauso wie alle anderen zu den Gemeindemitgliedern des zuständigen Pfarramts. Und deshalb ist es auch gut, wenn sie sehen, da findet ein Gottesdienst ihrer Kirchengemeinde im Pflegeheim statt. Die Menschen, die in unseren Pflegeheimen wohnen, sind Mitglieder ihrer örtlichen Kirchengemeinde. Sie werden auch mitgezählt zur Gemeindemitgliederzahl des jeweiligen Pfarramts. Wenn sie nicht da wären, wären es auch weniger Gemeindemitglieder, das muss man sich klarmachen. Ich glaube da, wo man das ernst nimmt, funktioniert das auch. Es können ja auch Ruhestandspfarrer eingebunden werden oder Diakone, es muss nicht alles der Gemeindepfarrer tun – das ist ja auch ein Stück Quartiersarbeit. Auch qualifizierte Ehrenamtliche können Gottesdienste halten. Pflege der Seele Viele ältere Menschen sind dankbar über die kirchlichen und seelsorgerlichen Angebote

| Gute Pflege | 1_2025 | 17 Personalien – 2025 Hagen Stüber, Palmscher Garten, Deizisau Seit Januar 2025 ist Hagen Stüber als Hausdirektor im Palmschen Garten in Deizisau. Als gelernter Altenpfleger absolvierte er Weiterbildungen zur Pflegedienst- und Einrichtungsleitung. Außerdem ist er Teilnehmer des Traineeprogramms der EHS. Heike Dessecker-Maier, Bad Sebastiansweiler GmbH Seit Januar übernimmt Heike Dessecker-Maier die Geschäftsführung der Bad Sebastiansweiler GmbH. Sie ist gelernte Krankenschwester und Diplom-Kauffrau mit langjähriger Führungserfahrung im Bereich der Gesundheitswirtschaft. Simone Naser, Zentrale, Stuttgart Simone Naser übernimmt seit Januar die Referatsleitung Leistungsabrechnung in der Zentrale der EHS. Zuvor war sie dort bereits als Teamleitung für den Bereich der stationären Abrechnung zuständig. Julia Lang, Haus Rosengarten, Bad Sebastianweiler Die Stelle der Hausdirektion im Haus Rosengarten übernimmt seit Januar Julia Lang. Zuvor war sie bereits als Hausdirektorin im StephansheimGäufelden der EHS tätig und absolvierte das Traineeprogramm. Unsere neuen Führungskräfte Vanessa Groß, Zentrale, Stuttgart Im Januar hat Vanessa Groß die Leitung des Referats Liegenschaften übernommen. Zuvor war sie als Referentin in erster Linie für Mietverträge, Betriebskostenabrechnung und WEG zuständig.

18 | Gute Pflege | 1_2025 | Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass Stolz tatsächlich angeboren und kulturunabhängig ist. Es ist also zutiefst menschlich, die Ergebnisse seiner eigenen Handlungen auf sich selbst zurückzuführen und so etwas wie Stolz dafür zu empfinden. Und man kann sich schon fragen, warum im sozialen, diakonischen Bereich, die Wahrnehmung der eigenen Leistung und damit auch der Stolz darauf, weniger stark ausgeprägt ist, als das etwa bei einem IT-ler oder bei einem Ingenieur oder bei einem Arzt der Fall ist. Nach meiner Wahrnehmung ist „Stolz“ heute eher positiv besetzt. Guter Stolz bedeutet für mich, ein gesundes Selbstwertgefühl zu besitzen und sich dessen bewusst zu sein. Wir haben es im sozialen, diakonischen Bereich oft mit Menschen zu tun, die diesen authentischen Stolz nicht spüren, die nur ein geringes Selbstwertgefühl haben. Sie wollen eher im Hintergrund bleiben, vielleicht auch ein paar Kränkungen und ein wenig Selbstmitleid pflegen. Warum eigentlich? Vielleicht fehlt es schlicht an der Wahrnehmung dessen, was sie leisten und worauf sie stolz sein können. Woher auch sollen sie es wissen, wenn es ihnen niemand sagt und sie es selbst nicht merken. Und genau da wollen wir in diesem Jahr ansetzen mit unserer Kampagne „Proud to Care“. Alle, die bei der EHS arbeiten, dürfen und sollen stolz sein auf das was sie Gutes bewirken. Dabei geht es nicht nur um Pflege, sondern um alle Jobs, die es bei uns gibt in Pflege und Betreuung, Hauswirtschaft, Technik, Küche und Verwaltung. Jeder und jede von uns kennt einen Kollegen oder eine Kollegin auf die oder den eine dieser Aussagen zutrifft: „Du bist die Schulter, die trägt“, „Du bist der Sachverstand, der hilft“, „Du bist das Herz, das mitfühlt“. Was sollen uns diese Sätze sagen? Ich glaube, wenn wir es schaffen, vom Du zum Ich zu kommen, haben wir einen großen Schritt geschafft. Also: Ja, stimmt eigentlich – ich bin eine starke Schulter, die trägt! Von da aus ist es nicht mehr weit zum Wir: Wir sind Gute Pflege. Wenn wir im besten und authentischen Sinne stolz darauf sind, was wir täglich in der Altenpflege leisten und welche Verantwortung wir tragen, dann würde das jedem einzelnen als Person helfen, der Heimstiftung als Unternehmen und darüber hinaus auch der Branche – es wäre ein Meilenstein. Wir ermöglichen alten, kranken, pflege- und hilfsbedürftigen Menschen ein würdiges, selbstbestimmtes Leben – das ist eine große Sache. Darauf können wir stolz sein. Ich bin es jedenfalls! Bernhard Schneider Proud to Care. — (E)InSicht Kommentar – (E)InSicht

| Gute Pflege | 1_2025 | 19 Gute Pflege. Mit Mut und Überzeugung. Mit Professionalität und Empathie. Und mit denen, die dafür gemacht sind.

20 | Gute Pflege | 1_2025 | Gut gemischt. — Personalbemessung in der Altenpflege Pflege im Fokus

| Gute Pflege | 1_2025 | 21 „ Aus den individuellen Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner leiten sich Anzahl und Qualifi- kation der benötigten Pflegepersonen ab.“ Steffen Till, Leiter des Referats Pflege und Alltagsbegleitung bei der EHS Dazu gehört auch, dass qualifizierte Pflege- kräfte entsprechend ihres Könnens und Wissens eingesetzt werden. „Wenn niemand unter- oder überfordert ist, erhöht das die Arbeitszufriedenheit und damit den Verbleib im Beruf deutlich“, sagt Steffen Till, Leiter des Referats Pflege und Alltagsbegleitung bei der EHS. „Ganz am Anfang dieser Überlegung steht der Bedarf: denn aus den individuellen Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner leiten sich Anzahl und Qualifikation der benötigten Pflegepersonen ab. Natürlich schließt sich dann die Frage der Finanzierung an – über die im Rahmen der Reform der Doch wie viel Personal braucht gute Pflege eigentlich wirklich? Eine zentrale Frage in der Organisation von Pflegeeinrichtungen. Allerdings sind die Einrichtungen in dieser Entscheidung nicht frei. In jedem Bundesland gibt es sogenannte Rahmenverträge, die eine Bandbreite definieren, innerhalb der sich die Personalausstattung bewegt. Die entsprechenden Forderungen müssen begründet und mit den Pflegekassen sowie Sozialhilfeträgern verhandelt werden. Seit Einführung der Pflegeversicherung waren diese Bandbreiten für die Personalausstattung ausschließlich im jeweiligen Bundesland geregelt. Zukünftig ändert sich das: Die Untergrenze, also die Personalmindestausstattung, wird weiterhin auf Landesebene definiert. Die Obergrenze jedoch wird auf Bundesebene einheitlich für alle festgelegt. Ein Forschungsteam der Universität Bremen hatte dazu den Auftrag, ein wissenschaftlich fundiertes System zu entwickeln, mit dem sich bestimmen lässt, wie viel Personal für welche pflegerischen Leistungen wirklich notwendig ist. Was braucht gute Pflege? Die Qualität von Pflege ist zum einen davon abhängig, dass sich genügend Menschen für den beruflichen Weg in die Pflege entscheiden. Aber auch davon, ob sie dann mit den richtigen Qualifikationen an der passenden Stelle eingesetzt werden. Damit sich ausreichend Menschen für den beruflichen Weg in der Pflege entscheiden, ist unter anderem die Attraktivität des Berufs bedeutend. Je besser die Rahmenbedingungen, desto höher die Chancen auf Einstieg, Wiedereinstieg oder Erhalt von Pflegekräften im Beruf. Auch in Zukunft soll eine gute und professionelle pflegerische Versorgung im Alter sichergestellt sein. Eine Herausforderung für Pflegeunternehmen, die in Anbetracht von demografischem Wandel und Knappheit an Pflegekräften schon heute beginnt. > > >

22 | Gute Pflege | 1_2025 | > > > Pflegeversicherung diskutiert und berichtet wird“, erklärt Steffen Till. Im zweiten Pflegestärkungsgesetz wurde festgeschrieben, ein Verfahren zur Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeinrichtungen (PeBeM) nach qualitativen und quantitativen Maßstäben zu entwickeln und zu erproben. Seit Januar 2025 gilt die „neue Personalbemessung“ in Baden-Württemberg verbindlich. Jede Pflegeeinrichtung soll damit eine Personalstruktur erhalten, die sich daran orientiert, wie viele Bewohnerinnen und Bewohner mit welchem Unterstützungsbedarf (entsprechend des Pflegegrades) dort leben. Bisher wurde anhand der Bewohnerstruktur eine gesamte Personalmenge abgeleitet – die Hälfte mussten Pflegefachkräfte sein. Nach der neuen Personalbemessung unterscheidet man drei Personalschlüssel. Der Bedarf an Pflegefachkräften, Pflegehilfskräften mit einjähriger Ausbildung sowie angelernten Pflegehilfskräften ohne Ausbildung wird individuell pro Einrichtung festgelegt. Zusätzlich zu diesen neuen Personalschlüsseln findet innerhalb der Einrichtung eine neue Aufgabenzuteilung statt. Es stellt sich die Frage, welche Qualifikation für welche Aufgabe erforderlich ist. Mitarbeitende sollen unter Berücksichtigung ihres Wissens und Könnens so eingesetzt werden, dass sie weder unter- noch überfordert sind und somit eine höhere Zufriedenheit mit ihrem Arbeitsalltag erreichen. Um diese neue Form der Personalbemessung und des Personaleinsatzes in der Pflege-Praxis zu erproben, wurde ein Modellprojekt initiiert. Bundesweit waren zehn Einrichtungen daran beteiligt, darunter auch das Haus Talblick der Evangelischen Heimstiftung in Engelsbrand. Pflege im Fokus Die Qualität von Pflege ist zum einen davon abhängig, dass sich genügend Menschen für den beruflichen Weg in die Pflege entscheiden, aber auch davon, ob sie dann mit den richtigen Qualifikationen an der passenden Stelle eingesetzt werden.

| Gute Pflege | 1_2025 | 23 > > > Entstehung der neuen Personalbemessung Um in einem ersten Schritt alle Aufgaben und Prozesse, die im Pflegealltag anfallen zu erfassen und zu verstehen, hat ein Forschungsteam als sogenannte „Schatten“ Mitarbeitende aus der Pflege in ihrem Alltag begleitet. Teil der Beobachtung war sowohl, welche Tätigkeiten, auch Interventionen genannt, grundsätzlich erledigt wurden und wie viel Zeit sie jeweils in Anspruch nahmen. Aber auch wie sinnvoll diese Tätigkeiten waren: Haben die betreffenden Personen alle Leistungen erhalten, die es aus fachlicher Sicht gebraucht hätte? Eingeflossen ist darüber hinaus auch die Beobachtung, ob die Intervention in der korrekten Weise und von der dafür qualifizierten Person erbracht wurde. Aus diesem IST-Zustand konnte nachfolgend ein SOLL-Zustand abgeleitet werden. Alle Beschreibungen des SOLLZustandes ergeben einen Katalog an Interventionen mit der jeweiligen Zuordnung der Zeit und den benötigten Qualifikation. Es entsteht eine Qualifikationsmatrix, die folgende Fragen beantwortet: 1. Welche Ausbildung entspricht welchem Qualifikationsniveau? 2. Wie komplex ist eine Intervention? Welche Kompetenzen müssen die Pflegenden mitbringen, um den Aufgaben gerecht zu werden, ohne über- oder unterfordert zu sein? 3. Welche Risiken bestehen beim Bewohner oder bei der Bewohnerin? Wie stabil ist die gesundheitliche Situation? Berücksichtigt wurde dabei, ob die Tätigkeit nach einem festen Muster abläuft, oder ob eigene Ansätze zur Problemlösung notwendig sind. Ermittlung Zustand und Bedarf Beobachtung IST-Zustand Bewertung SOLL-Zustand Erstellung eines Interventionskatalogs

24 | Gute Pflege | 1_2025 | Außerdem werden auch sozial-kommunikative Kompetenzen betrachtet – ist es also notwendig, sich empathisch in eine Situation einzufühlen, eine andere Perspektive einzunehmen oder das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren. „Daraus ergibt sich eine Übersicht aller Aufgaben, vom Beginn der pflegerischen Versorgung (Aufnahme) bis hin zur palliativen/postmortalen Versorgung und den jeweils notwendigen Qualifikationen, die wir für uns als EHS erstellt haben – das erleichtert die Umsetzung enorm“, sagt Jasmin Riedmüller, aus dem Referat Pflege und Alltagsbegleitung. So entsteht der Personalmix, der die optimale Versorgung, aber auch Auslastung der Pflegekräfte sicherstellt. „Im Mittelpunkt muss die Frage stehen: Wer macht was, wann und wieso?“, erklärt Jasmin Riedmüller. Theorie und Alltag Wie kann diese sachliche Analyse in den Arbeitsalltag integriert werden? „Dazu bedarf es einer detaillierten Arbeitsablaufplanung. Sie besteht aus festgelegten Pflegegruppen, administrativen Tätigkeiten sowie anfallenden Aufgaben auf dem Wohnbereich in Pflege und Alltagsbegleitung“, sagt Jasmin Riedmüller. Eine einheitliche und fachgerechte Bewohnerversorgung wird damit trotz wechselnder Mitarbeitender sichergestellt, da die Arbeitsabläufe transparent abgebildet sind. Auch ein Ausfallmanagement ist integriert, in dem beschrieben ist, welche Pflegegruppe sowie anfallende Aufgaben im Falle einer kurzfristigen Änderung zu anderen Gruppen zugeordnet werden. Die Arbeitsablaufplanung ergänzt die Dienstplanung. „Mitarbeitende wissen damit nicht nur wann sie arbeiten, sondern auch welche Aufgaben anstehen“, erklärt Jasmin Riedmüller. Die neue Personalbemessung betrachtet nicht nur, welcher Bewohner welche Versorgung benötigt, sondern auch welcher Mitarbeitende welche Aufgaben übernimmt. Diese Fragestellungen führen zu einem detaillierten Ablaufplan für die Arbeit. Diese Struktur wirkt sich auf einige Aspekte aus: 1. Kundinnen und Kunden erhalten eine fachlich angemessene pflegerische Versorgung. 2. Eine einheitliche, an den Wünschen und Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner orientierte pflegerische Versorgung kann trotz wechselnden Personals sichergestellt werden. 3. Pflegefachkräfte haben die Möglichkeit, ihren Vorbehaltsaufgaben nachzukommen. Es können also zum Beispiel Zeitfenster für die Schichtleitung freigehalten werden, in denen etwa die Kommunikation mit Ärzten und Angehörigen erfolgt. 4. Alle Mitarbeitenden gewinnen Handlungssicherheit durch klar beschriebene Aufgaben und Zuständigkeiten. > > > Pflege im Fokus Wie kann der Arbeitsablauf geplant werden? Wer macht wann was? Der Planungsprozess 1. Festlegung der täglich zu besetzenden Dienste 2. Schichtabläufe • Eckdaten für alle Wohnbereiche (zeitlicher Rahmen) • Wohnbereichsindividuelle Abläufe (Pflege, Betreuung und anfallende Aufgaben) 3. Bildung von (Bezugs-)Pflegegruppen • Wie viele Mitarbeitende werden in welchem Stundenumfang täglich benötigt? • Hieraus können die anwesenden Mitarbeitenden pro Schicht abgeleitet werden. • Es werden so viele Pflegegruppen gebildet, wie Mitarbeitende pro Schicht (Früh-, Spät, Nachtdienst inklusive ATB) geplant werden.

| Gute Pflege | 1_2025 | 25 Modellprojekt Personalbemessung Im Haus Talblick, einer der Einrichtungen, die die Modellphase der Personalbemessung durchlaufen haben, kann Hausdirektor Christoph Schütze Sorgen vor der Umsetzung vor Ort entkräften. „Vieles, was Bestandteil von PeBeM ist, haben wir auch davor schon so gemacht. Die Arbeitsorganstation hat sich für uns am meisten unterschieden, aber über die Monate ist auch das immer selbstverständlicher geworden.“ Zu Beginn war man vor Ort aufgeregt, Teil des Modellprojekts zu sein und ja – es gab durchaus auch Vorbehalte. „Viel Hörensagen über PeBeM war im Umlauf. Es war schwer, sich konkret vorzustellen, was die Umsetzung für jeden und jede Einzelne bedeuten würde. Die Vorteile, die sich daraus ergeben könnten, waren noch nicht so präsent und deutlich.“ Jetzt, nach der Modellphase, ist das erste Resümee positiv. „Und das Wichtigste: Die Bewohnerinnen und Bewohner bekommen die Pflege, die sie benötigen. Alle kommen gut mit ihrer Arbeit zurecht, jeder weiß, wofür er zuständig ist“, berichtet Christoph Schütze. Für die erfolgreiche Einführung der neuen Personalbemessung sind aus seiner Perspektive hauptsächlich zwei Faktoren entscheidend: „Zum einen hat uns die enge Begleitung des Fachreferats sehr unterstützt und zweitens haben wir die Mitarbeitenden ganz aktiv in die Schritte der Veränderung eingebunden. Es war mir immer wichtig, dass wir nicht nur das langfristige Ziel im Blick haben, sondern die Einführung von PeBeM als einen Prozess verstehen und da gemeinsam als Team hineinwachsen“, sagt Christoph Schütze. Workshops und viele Möglichkeiten zum Austausch waren das Erfolgsrezept. „Das Motto: erst machen, dann schimpfen. Wer etwas ausprobiert hat und dann merkt, dass es nicht funktioniert, konnte das zusammen mit einem Verbesserungsvorschlag einreichen. Das ist aber im gesamten Jahr nur einmal passiert. Der Schlüssel liegt also unserer Erfahrung nach darin, sich zunächst auf die Dinge einzulassen und dann im täglichen Arbeiten auch den Mehrwert persönlich zu erleben.“ Im Mittelpunkt steht trotz aller Konzepte und Prozesse immer das Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner. „Die Prozesse und die klaren Aufgabenzuteilungen helfen uns. Trotzdem gehen wir natürlich weiterhin auf individuelle Situationen ein. Es gab beispielsweise eine Bewohnerin mit fortgeschrittener Demenz. Ihre Versorgung wäre laut der Aufgabenzuteilung klar im Bereich der Fachkraft. Allerdings kam sie nicht mit jedem zurecht und es gab da einen Pflegehelfer, der einen ganz besonders guten Zugang zu ihr hatte. Sie hat gestrahlt, wenn sie ihn nur gesehen hat. Es ist ganz klar, dass er in ihre Pflege auch als Helfer einbezogen wird. Ziel ist und bleibt immer, dass wir mit unseren Ressourcen die bestmögliche Pflege leisten“, erzählt Christoph Schütze. „ Alle kommen gut mit ihrer Arbeit zurecht, jeder weiß, wofür er zuständig ist.“ Christoph Schütze, Hausdirektor Haus Talblick (Teilnahme am Modellprojekt Personalbemessung)

26 | Gute Pflege | 1_2025 | Stell dir vor, du tust was Gutes – auch für dich. Mit einem Freiwilligen Sozialen Jahr in der Pflege. Was dir ein FSJ bringt: • Persönliche Weiterentwicklung • Berufliche Orientierung und Erfahrungen sammeln • Orientierungsphase sinnvoll nutzen • Soziales Engagement • Mit dem FSJ/BFD zur Fachhochschulreife Bewirb dich jetzt: www.ev-heimstiftung.de/freiwilligendienste und entdecke die Evangelische Heimstiftung, eine Arbeitgeberin nach deinen Vorstellungen. Stell dir vor, du tust was Gutes – auch für dich. Mit einem Freiwilligen Sozialen Jahr in der Pflege. Was dir ein FSJ bringt: • Persönliche Weiterentwicklung • Berufliche Orientierung und Bewirb dich jetzt: www.ev-heimstiftung.de/freiwilligendienste und entdecke die Evangelische Heimstiftung, eine Arbeitgeberin nach deinen Vorstellungen.

| Gute Pflege | 1_2025 | 27 Die Koalitionäre versprechen eine große Pflegereform. Dafür liefert die Initiative Pro-Pflegereform gemeinsam mit dem Bremer Experten Prof. Dr. Heinz Rothgang die Blaupause. Zukunft Pflege. — Historischer Meilenstein für die Pflegeversicherung In den Jahren der Ampelkoalition ist in Sachen Pflege nicht viel passiert. Die Pflegeversicherung laviert am Rand der Zahlungsunfähigkeit, die Eigenanteile im Pflegeheim werden unbezahlbar, es fehlen Pflegeheimplätze und -angebote für die Versorgung zu Hause. Die Pflegebranche ächzt Pro-Pflegereform unter den Bürokratielasten und der innovationsfeindlichen Systemstruktur der 90er Jahre. Zeitgleich mit dem Beginn der Koalitionsverhandlungen hat die Initiative das 3. Gutachten zur „Alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung“ in Berlin vorgestellt. > > >

28 | Gute Pflege | 1_2025 | Pro-Pflegereform > > > Das Gutachten beschreibt auf knapp 100 Seiten ein wissenschaftlich fundiertes Gesamtkonzept für die „Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung“. Im Kern geht es darum, eine Finanz- und Strukturreform umzusetzen und die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung mit begrenzten Eigenanteilen weiterzuentwickeln. Das Gutachten nimmt erstmals alle Versorgungsformen in den Blick: sowohl im Pflegeheim als auch zuhause. Zielbild ist eine Welt ohne Sektoren. Eine Unterscheidung in ambulante und stationäre Pflege entfällt also langfristig. Stattdessen sollen individuelle Pflegearrangements unabhängig vom Wohnort möglich sein und so auch Bürokratie abgebaut werden. Das Gutachten gibt auch Antworten darauf, wie man dem Fachkräftemangel entgegenwirken kann, etwa durch eine individuelle, bedarfsorientierte Leistungsbemessung, innovative Versorgungsformen und die stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft. Damit stößt das Gutachten die Tür auf für eine Pflegeversicherung der Zukunft. Entlastung im Pflegeheim und Stärkung der Häuslichkeit Das Gutachten zeigt Lösungen auf, wie durch eine systematische Begrenzung der Eigenanteile in allen Settings Pflege wieder bezahlbar wird. Eine solche Vollversicherung mit begrenztem Eigenanteil und mehr Leistungen kostet mehr Geld, vor allem in der zweiten Reformstufe, wenn die Pflege zu Hause umfassend reformiert werden soll. Deshalb entwickelt das Gutachten auch Bausteine für eine Finanzreform und weist über verschiedene Modellrechnungen nach, dass damit der Beitragssatz gegenüber dem Status quo stabilisiert werden kann. Schnittmengen die Hoffnung machen In den Wahlprogrammen der Regierungsparteien finden sich viele Forderungen, die von den Reformvorschlägen der Initiative Pro-Pflegereform aufgegriffen werden. Eine große Pflegereform wäre mit etwas Kompromissbereitschaft möglich: Finanzierungsmix • Nebeneinander von GPV und PPV, Steuermittel und Vorsorge behalten • Pflegezusatzversicherung • Finanzielle Stabilität der PV • Flexibles Pflegebudget • Fokus auf die Häuslichkeit • Abbau der Sektorengrenzen • Gesellschaftsjahr • Bürokratieabbau • Digitalisierung • Stärkung Prävention der Reha • Attraktive Pflegeberufe Pflegebürgerversicherung • Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Pflegeversicherungen beenden • Pflegekostendeckel von 1.000 Euro • Deckel im Heim und zu Hause • IK-Anteile bezuschussen • Bedarfsgerechte Pflegeinfrastruktur • Fokus auf die Häuslichkeit • Familienpflegezeit, Familienpflegegeld • Bessere Arbeitsbedingungen • Bürokratieabbau • Digitalisierung • Attraktive Ausbildung CDU / CSU SPD Pflegevollversicherung mit begrenzten Eigenanteilen • Cure und Care als Grundprinzip • Bedarfsorientierte Leistungen nach Modulen • Sockel-Spitze-Tausch im Pflegeheim und zu Hause • 3-Instanzen-Modell mit Case Management • Wohnen und Pflegen als Grundprinzip • Pflegegrad 2.0 mit Kontrahierung für Bürger-Profi-Mix Pro-Pflegereform

| Gute Pflege | 1_2025 | 29 Zur Information Pro-Pflegereform – Initiative zur Reform der Pflegeversicherung: Drei Reformstufen zwischen 2026 und 2030 Für das Reformkonzept wurde ein Zeitplan entwickelt, der die Vision einer neuen Pflegeversicherung in drei aufeinander aufbauenden Reformschritten abbildet. 1. Reformstufe: Nachhaltige Entlastung im Pflegeheim ab 2026 Die erste Reformstufe soll Pflegebedürftige bereits ab 2026 entlasten, indem die Eigenanteile im Pflegeheim begrenzt werden. • Sockel-Spitze-Tausch reduziert und begrenzt den Eigenanteil und damit das finanzielle Risiko bei Pflegebedarf • Behandlungspflege und Kosten für die Ausbildung sollen umfinanziert werden 2. Reformstufe: Bedarfsorientierung und Stärkung pflegender Angehöriger ab 2028 Ab 2028 sollen dann Reformbausteine umgesetzt werden, um die Versorgung vor allem im häuslichen Bereich neu zu organisieren: • individuelle Leistungsbemessung • ein neues Pflegegeld 2.0 • eine Leistungserbringung im 3-InstanzenModell mit Case Management Für professionelle Pflegeleistungen zahlen die pflegebedürftigen Personen ab Inkrafttreten der zweiten Reformstufe einen monatlichen Sockelbetrag in Höhe von 25 Prozent der pflegebedingten Kosten, höchstens allerdings 700 Euro. Zusätzlich wird ein Gesamteigenanteil von maximal 25.200 Euro festgelegt. 3. Reformstufe: Leistungserbringung ohne Sektoren in Wohnsettings ab 2030 Ab 2030 sollen die bürokratischen Sektoren und damit die Fehler aus den 90er Jahren endgültig überwunden sein. Eine Unterscheidung in ambulanten und stationären Sektor gibt es nach der Strukturreform nicht mehr. Hierzu werden individuell bedarfsorientierte Leistungen für jeden Pflegebedürftigen bemessen. Daraus errechnet sich ein Budget, innerhalb dessen die Pflege unabhängig vom Wohnort organisiert werden kann. Forderungen an die Politik: • Versprechen einlösen und große Pflegereform auf den Weg bringen • Expertenkommission einsetzen mit Gutachten der Initiative Pro-Pflegereform als Grundlage • Reformstufe 1 ab 2026 umsetzen: Sockel-Spitze-Tausch im Pflegeheim mit Eigenanteil 25% Umfinanzierung von Behandlungspflege und Ausbildungskosten Vorbereitung der Reformstufe 2 • Reformstufe 2 ab 2028 umsetzen: Bedarfsorientierung und Stärkung der Häuslichkeit mit Modularisierung, 3-InstanzenModell, Pflegegeld 2.0 und Eigenanteil 25% Finanzierung durch 10% Steuerzuschuss, Finanzausleich Soziale Pflegeversicherung und Private Pflegeversicherung sowie Erweiterung der Beitragsbemessung • Vorbereitung Reformstufe 3 sektorenfreie Versorgung ab 2030

30 | Gute Pflege | 1_2025 | Initiative Pro-Pflegereform. — Gefragt Die Finanzierung von Pflege, aber gleichzeitig auch die Knappheit an Fachkräften sind drängende Themen in der Branche. Du beschäftigst dich mit beiden federführend. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Fachkräftemangel und Finanzierung? Heinz Rothgang: Wichtig ist erstmal, dass wir nicht nur einen Fachkräftemangel haben, sondern wir haben auch einen Mangel an Assistenzkräften in der Pflege – das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Was immer wir machen, um den Pflegekräftemangel zu bekämpfen, es kostet normalerweise Geld. Das ist der Zusammenhang. Ob wir jetzt sagen, wir bezahlen die Pflegekräfte besser, wir haben mehr Menschen in einer Schicht, damit die Arbeitsbedingungen besser werden oder wir gehen ins Ausland und gründen da Pflegeschulen – alles kostet Geld und erhöht damit die Ausgaben der Pflegeversicherung. Das ist aber notwendig. Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen und Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung haben gemeinsam mit weiteren Unterstützenden der Initiative Pro-Pflegereform ein neues Reformgutachten vorgestellt. Ein Gespräch über Daten, Fakten und Zuversicht. Mit Blick auf unsere Kundinnen, Kunden und Mitarbeitenden: Wie wird dieser Zusammenhang bei uns in den Einrichtungen deutlich? Bernhard Schneider: Er wird bei uns deutlich, weil wir in der Heimstiftung schon immer tarifgebunden sind und deshalb die höchsten Gehälter bezahlen. Die Pflegekräfte bekommen bei uns im Durchschnitt 4.500 € brutto monatlich. Das ist der eine Treiber. Der andere ist, dass wir in Baden-Württemberg mit die höchsten Personalschlüssel haben, die wir auch realisieren. In der Folge haben wir in unseren Pflegeheimen auch hohe Kosten mit Eigenanteilen über 4.000 Euro. Das heißt, Pflege kann sich fast niemand mehr leisten und die Pflegeversicherung verliert immer mehr ihr eigentliches Ziel aus den Augen, nämlich Menschen vor einer Notlage zu bewahren. Und deshalb hängen die Dinge natürlich zusammen. Pro-Pflegereform

| Gute Pflege | 1_2025 | 31 damit jeder Reformschritt, der in den nächsten Jahren folgt, auf dieses Bild einzahlt. Heinz, jetzt gab es in den vergangenen Jahren aus der Politik mehr oder weniger konkrete Ideen zu einer Reform oder zu einer Teilreform der Pflegeversicherung. Inwieweit unterscheiden diese sich von dem Reformkonzept, das du jetzt erarbeitet hast? Heinz Rothgang: Im Moment steht im Sondierungspapier, dass eine große Pflegereform angestrebt wird. Und das ist genau das, was wir vorschlagen. Eine Pflegereform, wenn man so will, aus einem Guss, die die strukturellen und die finanziellen Änderungen zusammen denkt. > > > Jetzt wurde das Gutachten der Initiative Pro-Pflegereform vorgestellt, das dieses Pro- blem lösen soll. Kannst du sagen, was die drei wichtigsten Eckpunkte für dich sind? Bernhard Schneider: Der erste wichtige Eckpunkt ist, dass in dem Sofortprogramm ab 2026 durch den Sockel-Spitze-Tausch die Eigenanteile in den Pflegeheimen wirksam begrenzt werden. Sie werden sonst weiter steigen und das Problem vergrößern. Der zweite Eckpunkt ist, dass die notwendige Finanzierung durch einen entsprechenden Steuerzuschuss und durch eine neue Zuordnung der Ausbildungskosten geschaffen wird. Das Problem in der Pflegeversicherung war ja immer, dass kurzfristig gedacht wird. Und das ist der dritte wichtige Punkt: Es muss eine Gesamtvision der Pflegeversicherung entstehen, v.l.n.r.: Andreas Wedeking, Geschäftsführer VKAD, Prof. Dr. Heinz Rothgang Uni Bremen – Leiter SOCIUM, Bernhard Schneider – Hauptgeschäftsführer EHS, Eva Lettenmeier, Geschäftsbereichsleiterin Pflegewirtschaft bei contec GmbH, Wilfried Wesemann, Vorsitzender DEVAP

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