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Impuls

„Der einzelne Mensch soll befähigt

werden, selbst zu lesen, sich ein

Urteil zu bilden, Fragen zu stellen,

Verantwortung zu übernehmen.“

noch einmal anders dar, spielt doch die Kolonial-

geschichte in der Zuwanderung eine ganz andere

Rolle.

Schlagartig bewusst wurde die neue Lage mit dem

11. September 2001 und seinen Folgen, dem Irak-

und Afghanistankrieg. Terroristen begründeten

ihr mörderisches Handeln jetzt oftmals mit Reli-

gion und Hass auf „Ungläubige“, damit Christen

meinend. Die Zuwanderung von Geflüchteten

muslimischen Glaubens führt zum Teil zu einer

vehementen Ablehnung durch die einheimische

Bevölkerung. In Deutschland entsteht die nahezu

absurde Situation, dass Kirchengemeinden sich

für diese Geflüchteten engagieren, während Men-

schen, die in keiner

Verbindung zur Kirche

stehen, erklären, sie

würden das christliche

Abendland verteidigen.

Und manche Staaten,

vor allem Frankreich,

die sich der Laicité ver-

schrieben haben, fragen sich, wie sie nun in einen

Dialog treten können. Die Frage steht im Raum:

Ist der Islam demokratiekompatibel? Gibt es ein

friedliches Miteinander der moderaten Kräfte in

allen Religionen? Wie gestaltet sich ein Zusam-

menleben von Menschen verschiedener Religion

und ohne Religion? Und wie lässt sich Terror ab-

wehren, ohne Demokratie zu gefährden?

Ein letzter Punkt: Luthers Antijudaismus, ja wohl

auch Antisemitismus, haben wir in Deutschland

in den letzten Jahren intensiv beraten. Unsere

Synode hat sich imNovember 2015 klar von seinen

Judenschriften distanziert. Wir haben aus dem

Versagen, Juden vor der Verfolgung durch die

Nationalsozialisten geschützt zu haben, dieser

Schuldgeschichte unseres Landes und auch un-

serer Kirche gelernt. Und doch müssen wir jetzt

realisieren, dass es einen neuen Antisemitismus

gibt und zwar nicht nur in Deutschland. Hier muss

es eine klare Haltung von Kirche und Politik ge-

rade auch gegenüber sogenannten Rechtspopu-

listen wie Herrn Höcke sowie der AfD und Herrn

Wilders sowie der „Partei für die Freiheit“ geben.

Welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen?

Zum einen ist mir wichtig, dass es der Reformation

um gebildeten Glauben ging. Der einzelne Mensch

soll befähigt werden, selbst zu lesen, sich ein Urteil

zu bilden, Fragen zu stellen, Verantwortung zu

übernehmen. Das scheint mir die beste Abwehr

gegen Fundamentalismus, denn Fundamentalis-

mus mag keine Fragen, da heißt es: Glaub oder geh

bzw. Glaub oder stirb.

Zum anderen: Die Aufgabe der Religion ist es, dazu

beizutragen, Konflikte zu entschärfen statt sie zu

verschärfen. Das ist im Grunde ebenso eine Lek-

tion aus der Reformation, denn die zerstörerischen

Kräfte, die mit dem 30-jährigen Krieg ganz Europa

überzogen, widersprachen am Ende Luthers

Grundsatz, dass nicht „mit Gewalt und Töten für

das Evangelium gestritten wird.‘“ Mir scheint das

die entscheidende Herausforderung, vor die wir

heute gestellt sind.

Zuletzt: Es geht darum,

dialogfähig zu sein,

miteinander und mit

der säkularen Welt.

Dazu ist es wichtig,

dass Religion eine Spra-

che findet, die „dem Volk auf´s Maul schaut“ wie

Luther das ausdrückte, aber nicht nach dem

Munde redet. Religion muss diskursfähig sein, um

sich einzubringen in die Auseinandersetzungen

unserer Zeit.

All diese Fragen werden wir diskutieren bei der

Weltausstellung Reformation unter dem Thema

„Tore der Freiheit“ in Wittenberg von Mai bis

September in diesem Jahr. Wie sieht es aus mit der

Ökumene und demDialog der Religionen? Was ist

heute Spiritualität? Wie stellen wir uns zu den

Herausforderungen der Globalisierung und von

Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöp-

fung? Welche Rolle spielt die Jugend heute? Das

tun wir mit vielen Gästen aus aller Welt, in inter-

nationaler Perspektive und im ökumenischen

Horizont. Alle sind herzlich eingeladen, dabei zu

sein. Denn das ist typisch reformatorisch: Erneu-

erung entsteht durch Lesen der Bibel und Gespräch

unter Menschen, die bereit sind, sich zu beteiligen.

Margot Käßmann

Margot Käßmann

„Tore der

Freiheit“

Weltausstellung

Reformation

in Wittenberg

von Mai bis September 2017

„Aus der Heimstiftung“

1/2017

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