

neue Überlegung, was kann muss und soll Diako-
nie leisten und wie muss sie inhaltlich und struk-
turell aufgebaut werden. Dem Leid der Hilfe
suchenden sollte mit Nächstenliebe, Solidarität
und Achtung der Menschenwürde begegnet wer-
den. Die von der Inneren Mission und dem Hilfs-
werk angebotenen Hilfen sollten deutlich machen
über was wir im christlichen Glauben reden.
Von wo aus wurde die Arbeit wahrgenommen?
Die Geschäftsstelle befand sich im Stuttgarter
Westen in der Reinsburgstraße. Sie war nur mit
wenigen Mitarbeitern besetzt und wurde von der
juristischen Geschäftsführerin Dr. Antonie Kraut
geleitet – einer promovierten Juristin und zugleich
einer Frau der Kirche. Sie wurde von Landesbischof
Wurm persönlich in das Amt berufen.
Sozusagen ein frommes Doppelleben. Geht das
zusammen? Juristische Prägnanz und Nächsten-
liebe?
Also ich glaube für Dr. Antonie Kraut war das kein
Problem, sie hat es in ihrer Person zusammen
gebracht und hat dadurch auch an Glaubwürdig-
keit gewonnen. Diese Wahrhaftigkeit – zu diesen
beiden Seiten ihres Tuns – die hat sie die ganzen
Jahre hindurch gezeigt.
Der christliche Glaube ist eine der Koordinaten
ihres Lebens, ihres Wertgerüstes. Sie haben dazu
einen schönen Text von ihr mitgebracht.
Dr. Antonie Kraut schreibt: „Wo um der Liebe
Gottes und des Erkennens Jesu willen der Elende
ruft, da ist die Kirche zur Hilfe verpflichtet, un-
beschadet ob der Staat diesen Dienst unterstützt
oder verbietet“.
Herr Hörrmann, Sie kennen Dr. Antonie Kraut per-
sönlich – wann sind Sie ihr erstmals begegnet?
Das war 1961 als ich gebeten wurde zusammen
mit meiner Frau die Heim- und Schulleitung in
der Wilhelmspflege in Stuttgart-Plieningen zu
übernehmen. Die Einrichtung hatte eine Lei-
tungs-, Belegungs- und Finanzkrise. Und wir
sollten nun sehen, wie diese Krisen beseitigt wer-
den können. Gleichzeitig waren Bauvorhaben
abzuschließen und vor allem die pädagogische
Arbeit galt es neu auszurichten.
Wenige Wochen nach diesem schwierigen Start
wurden wir von Dr. Antonie Kraut zum Gespräch
in die Landesgeschäftsstelle gebeten. Wir begeg-
neten einer Geschäftsführerin, die sehr rasch
Vertrauen zu uns „jungen Leuten“ (wir waren
damals knapp 30 Jahre alt) hatte. Am Ende des
Gesprächs sagte sie zu meiner Frau: „Wie kann ich
Ihnen helfen, was brauchen Sie jetzt im Augen-
blick am nötigsten?“ Die Antwort meiner Frau
weist daraufhin, in welcher finanziellen Lage die
Einrichtung war. Sie sagte: „Fräulein Dr. Kraut, ich
brauche für eine Gruppe von Buben Unterhosen
und Hosenträger.“ Wir gingen in die Wilhelms-
pflege zurück mit der Gewissheit: Da ist eine Ge-
schäftsführerin, die wird uns nicht alleinlassen,
die wird uns zuhören, die wird uns begleiten, die
wird uns unterstützen. So kam es dann auch.
Dr. Antonie Kraut, also eine Person und Persön-
lichkeit, die seelsorglich und politisch zugleich
denkt?
Ja genau, so habe ich sie damals erlebt und in den
kommenden Jahren hat sich dieser Eindruck ver-
stärkt.
Wie haben Sie sie in Gremien erlebt?
Sie war „die“ Frau im Rat der Männer. Denn da-
mals war es eine Seltenheit, wenn Frauen in Lei-
tungsgremien vertreten waren. Aber sie hat durch
ihre Sachkenntnis die Autorität und auch den
Respekt erworben, das war gar keine Frage. Sie hat
lange Diskussionen abgelehnt, war sehr zukunfts-
orientiert und hat auch alle Ehrungen für sich
abgelehnt. Erst mit 90 Jahren war sie bereit die
Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
entgegen zu nehmen. Dafür war ihr Anspruch bei
Gremiensitzungen ein besonderer: „Ich brauche
immer zwei Stühle“, hat sie gesagt, „einen für
meine Tasche und einen für mich.“
„Wo um der
Liebe Gottes
und des Erken
nens Jesu willen
der Elende ruft,
da ist die Kirche
zur Hilfe ver
pflichtet, unbe
schadet ob der
Staat diesen
Dienst unter
stützt oder ver
bietet“.
Titel
„Aus der Heimstiftung“
1/2017
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